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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band.

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die Maximen in der Kritik abweichen, zeigt das vorliegende Beispiel. -- soll
also überhaupt nicht Kritik getrieben werden? -- Herr Hinrichs ist nicht dieser
Meinung. Er schildert den Zustand des unbefangenen Publicums, welches von
Beethoven, Mozart, Meyerbeer, Proch, Flotow u. s. w. gleichmäßig begeistert
wird, in nicht sehr anziehenden Farben. Eine solche Unmittelbarkeit des Empfäng-
nisses ist also für die Bildung nicht statthaft und die Kritik hat die ganz nothwendige
und wichtige Aufgabe, durch Aufstellung von allgemeinen Gesetzen diese Unmittel¬
barkeit zu bilden und zu berichtigen. -- "Splitterrichter!" u. s. w. -- Herr Hinrichs
sollte sich schämen, solche abgedroschenen Redensarten in den M""d zu nehmen!

"Aber die Grenzboten überheben sich! sie betrachten die ganze Welt als
Object ihrer Kritik!" -- Freilich! Soweit die Grenzboten ein kritisches Journal
sind, betrachten sie allerdings die ganze Welt als Object ihrer Kritik. Thut
das nicht jeder Mensch? Jedes Urtheil ist eine "Ueberhebung" über den beurtheilten
Gegenstand, auch wenn man lobt; zu tadeln wäre eine solche Ueberhebung nnr
in dem Fall, wenn man jene momentane Ueberlegenheit auf das Verhältniß des
Urtheilenden zum Beurtheilten überhaupt ausdehnte. Der Kritiker unterscheidet
sich von dem urtheilenden Publicum, das ja auch zuweilen zischt, nur dadurch,
daß er uach Maximen zu urtheilen strebt; sind die Maximen falsch, so hat er
unrecht, aber das ist zu erweisen.

Aber der Ton! -- Warum muß unser Referent immer im Indicativ sprechen?
Warum gebraucht er keine conciliatorischen Partikelchen, "unmaßgeblich", "vielleicht",
"möchte", "dürste", "könnte" u. s. w.?

Daß wir dies wohlfeile Mittel verschmähen, hat folgenden Grund: das
deutsche Publicum hat sich so sehr an einen absoluten Indifferentismus selbst in
den ernsthaftesten Dingen gewöhnt, daß es fest davon überzeugt ist, im Grnnde
sei jeder Mensch ebenso indifferent, und wenn er ein Urtheil ausspräche, so geschähe
das nicht, um eine Sache abzuschließen, sondern um durch einen Einfall vorüber¬
gehend zu amüstren. Um gegen dieses Vorurtheil zu arbeiten, muß man den
Indicativ gebrauchen und nicht den Optativ.

Soweit von unserer Anmaßung im allgemeinen. Gehen wir nun zu unserer
Anmaßung gegen Wagner insbesondere über. Zunächst muß Herr Hinrichs nicht
glauben, daß dieser Ton gegen Wagner sich bei uns naiv und instinctmäßig her¬
ausbildet. Wir haben vielmehr die Absicht, vor eiuer Richtung, die wir in künst¬
lerischer wie in sittlicher Beziehung für absolut schädlich halten, so ernst als mög¬
lich zu warnen. Diese Absicht als richtig vorausgesetzt, wird uns Herr Hinrichs
wol zugestehen, daß wir deu richtigen Ton getroffen haben; denn die Lust, um
in seinem Bilde zu bleiben, ist gegenwärtig so mit Wagner-Enthustasmus gesät¬
tigt, die Athmosphäre durch die vielfachen Opferdünste so angefüllt, daß man von
jedermann voraussetzt, er sei, auch wenn er ihn tadelt, doch ein geheimer An¬
hänger Wagners. Diese Voraussetzung wollten wir bei uns so bestimmt als


Grenzboten. I. 18Si. 43

die Maximen in der Kritik abweichen, zeigt das vorliegende Beispiel. — soll
also überhaupt nicht Kritik getrieben werden? — Herr Hinrichs ist nicht dieser
Meinung. Er schildert den Zustand des unbefangenen Publicums, welches von
Beethoven, Mozart, Meyerbeer, Proch, Flotow u. s. w. gleichmäßig begeistert
wird, in nicht sehr anziehenden Farben. Eine solche Unmittelbarkeit des Empfäng-
nisses ist also für die Bildung nicht statthaft und die Kritik hat die ganz nothwendige
und wichtige Aufgabe, durch Aufstellung von allgemeinen Gesetzen diese Unmittel¬
barkeit zu bilden und zu berichtigen. — „Splitterrichter!" u. s. w. — Herr Hinrichs
sollte sich schämen, solche abgedroschenen Redensarten in den M»»d zu nehmen!

„Aber die Grenzboten überheben sich! sie betrachten die ganze Welt als
Object ihrer Kritik!" — Freilich! Soweit die Grenzboten ein kritisches Journal
sind, betrachten sie allerdings die ganze Welt als Object ihrer Kritik. Thut
das nicht jeder Mensch? Jedes Urtheil ist eine „Ueberhebung" über den beurtheilten
Gegenstand, auch wenn man lobt; zu tadeln wäre eine solche Ueberhebung nnr
in dem Fall, wenn man jene momentane Ueberlegenheit auf das Verhältniß des
Urtheilenden zum Beurtheilten überhaupt ausdehnte. Der Kritiker unterscheidet
sich von dem urtheilenden Publicum, das ja auch zuweilen zischt, nur dadurch,
daß er uach Maximen zu urtheilen strebt; sind die Maximen falsch, so hat er
unrecht, aber das ist zu erweisen.

Aber der Ton! — Warum muß unser Referent immer im Indicativ sprechen?
Warum gebraucht er keine conciliatorischen Partikelchen, „unmaßgeblich", „vielleicht",
„möchte", „dürste", „könnte" u. s. w.?

Daß wir dies wohlfeile Mittel verschmähen, hat folgenden Grund: das
deutsche Publicum hat sich so sehr an einen absoluten Indifferentismus selbst in
den ernsthaftesten Dingen gewöhnt, daß es fest davon überzeugt ist, im Grnnde
sei jeder Mensch ebenso indifferent, und wenn er ein Urtheil ausspräche, so geschähe
das nicht, um eine Sache abzuschließen, sondern um durch einen Einfall vorüber¬
gehend zu amüstren. Um gegen dieses Vorurtheil zu arbeiten, muß man den
Indicativ gebrauchen und nicht den Optativ.

Soweit von unserer Anmaßung im allgemeinen. Gehen wir nun zu unserer
Anmaßung gegen Wagner insbesondere über. Zunächst muß Herr Hinrichs nicht
glauben, daß dieser Ton gegen Wagner sich bei uns naiv und instinctmäßig her¬
ausbildet. Wir haben vielmehr die Absicht, vor eiuer Richtung, die wir in künst¬
lerischer wie in sittlicher Beziehung für absolut schädlich halten, so ernst als mög¬
lich zu warnen. Diese Absicht als richtig vorausgesetzt, wird uns Herr Hinrichs
wol zugestehen, daß wir deu richtigen Ton getroffen haben; denn die Lust, um
in seinem Bilde zu bleiben, ist gegenwärtig so mit Wagner-Enthustasmus gesät¬
tigt, die Athmosphäre durch die vielfachen Opferdünste so angefüllt, daß man von
jedermann voraussetzt, er sei, auch wenn er ihn tadelt, doch ein geheimer An¬
hänger Wagners. Diese Voraussetzung wollten wir bei uns so bestimmt als


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[0345] die Maximen in der Kritik abweichen, zeigt das vorliegende Beispiel. — soll also überhaupt nicht Kritik getrieben werden? — Herr Hinrichs ist nicht dieser Meinung. Er schildert den Zustand des unbefangenen Publicums, welches von Beethoven, Mozart, Meyerbeer, Proch, Flotow u. s. w. gleichmäßig begeistert wird, in nicht sehr anziehenden Farben. Eine solche Unmittelbarkeit des Empfäng- nisses ist also für die Bildung nicht statthaft und die Kritik hat die ganz nothwendige und wichtige Aufgabe, durch Aufstellung von allgemeinen Gesetzen diese Unmittel¬ barkeit zu bilden und zu berichtigen. — „Splitterrichter!" u. s. w. — Herr Hinrichs sollte sich schämen, solche abgedroschenen Redensarten in den M»»d zu nehmen! „Aber die Grenzboten überheben sich! sie betrachten die ganze Welt als Object ihrer Kritik!" — Freilich! Soweit die Grenzboten ein kritisches Journal sind, betrachten sie allerdings die ganze Welt als Object ihrer Kritik. Thut das nicht jeder Mensch? Jedes Urtheil ist eine „Ueberhebung" über den beurtheilten Gegenstand, auch wenn man lobt; zu tadeln wäre eine solche Ueberhebung nnr in dem Fall, wenn man jene momentane Ueberlegenheit auf das Verhältniß des Urtheilenden zum Beurtheilten überhaupt ausdehnte. Der Kritiker unterscheidet sich von dem urtheilenden Publicum, das ja auch zuweilen zischt, nur dadurch, daß er uach Maximen zu urtheilen strebt; sind die Maximen falsch, so hat er unrecht, aber das ist zu erweisen. Aber der Ton! — Warum muß unser Referent immer im Indicativ sprechen? Warum gebraucht er keine conciliatorischen Partikelchen, „unmaßgeblich", „vielleicht", „möchte", „dürste", „könnte" u. s. w.? Daß wir dies wohlfeile Mittel verschmähen, hat folgenden Grund: das deutsche Publicum hat sich so sehr an einen absoluten Indifferentismus selbst in den ernsthaftesten Dingen gewöhnt, daß es fest davon überzeugt ist, im Grnnde sei jeder Mensch ebenso indifferent, und wenn er ein Urtheil ausspräche, so geschähe das nicht, um eine Sache abzuschließen, sondern um durch einen Einfall vorüber¬ gehend zu amüstren. Um gegen dieses Vorurtheil zu arbeiten, muß man den Indicativ gebrauchen und nicht den Optativ. Soweit von unserer Anmaßung im allgemeinen. Gehen wir nun zu unserer Anmaßung gegen Wagner insbesondere über. Zunächst muß Herr Hinrichs nicht glauben, daß dieser Ton gegen Wagner sich bei uns naiv und instinctmäßig her¬ ausbildet. Wir haben vielmehr die Absicht, vor eiuer Richtung, die wir in künst¬ lerischer wie in sittlicher Beziehung für absolut schädlich halten, so ernst als mög¬ lich zu warnen. Diese Absicht als richtig vorausgesetzt, wird uns Herr Hinrichs wol zugestehen, daß wir deu richtigen Ton getroffen haben; denn die Lust, um in seinem Bilde zu bleiben, ist gegenwärtig so mit Wagner-Enthustasmus gesät¬ tigt, die Athmosphäre durch die vielfachen Opferdünste so angefüllt, daß man von jedermann voraussetzt, er sei, auch wenn er ihn tadelt, doch ein geheimer An¬ hänger Wagners. Diese Voraussetzung wollten wir bei uns so bestimmt als Grenzboten. I. 18Si. 43

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97245/345>, abgerufen am 22.07.2024.