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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band.

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staatsmännische Weisheit und großer Blick neben grillenhafter Beschränktheit, aber
diese Verbindung ist nicht aus innerer Nothwendigkeit hervorgegangen, ist des¬
halb nicht verständlich und ist zuletzt nicht viel mehr als ein Aggregat von Ein¬
fällen des Dichters. Noch weniger gelungen ist der Kandidat Mauritz, frommer
Theologe, dann Mitglied des Tugendbundes, Liebhaber der Tochter des Edel¬
manns, bald sein Vertrauter, bald schnöde von ihm behandelt, eine Figur
ohne kräftiges, inneres Leben. Wie ist es möglich, daß er, der doch ein fein¬
fühlender braver Mann sein soll, das Liebesverhältniß mit der Tochter in solcher
Weise beginnt und fortsetzt? Wie ist es möglich, daß er, nachdem der Vater
ihn nach Entdeckung desselben tödtlich beleidigt hat, noch lange Jahre in der Familie
bleibt, und wie ist es möglich, daß der Vater selbst ihn darin duldet? Mi߬
lungen ist auch die Zeichnung des jüngern märkischen Gutsbesitzers? welcher von jüdi¬
schem Herkommen und geadelt, um die wirthschaftliche Tochter des Hauses ohne Erfolg
freit, auch ihm sind verschiedene Eigenschaften wie gelegentlich zugewiesen, welche
sich schwer in dem Charakter einer Romanfigur vereinigen lassen. Er ist industrieller
Landwirth mit plebejen merkantilischen Neigungen im Gegensatz zu dem aristo¬
kratischen Hausherrn, und wieder einmal ein betrunkener tobsüchtiger Jäger,
welcher in Rausch und Wuth den Geliebten einer andern Tochter vom Busch aus
niederschießt, und wieder ein feuriger und tapferer Freiwilliger in den Be¬
freiungskriegen, der durch den brutalen Stolz des alten Edelmanns zuletzt be¬
wogen wird, sich mit Selbstgefühl von der Tochter desselben zurückzuziehen; am
Ende heirathet er eine geniale, etwas überschwengliche Patriotin von hohem Adel.
Der Leser weiß aus dieser Figur nichts zu machen, weil der Dichter selbst diesen
Charakter und seine Consequenzen nicht deutlich genug empfunden hat.
Eine große Anzahl vou Unwahrscheinlichkeiten kamen übrigens daher, daß
der Dichter nicht Raum gehabt hat, die für Fortführung der Handlung nothwendigen
charakteristischen Züge anzubringen, denn in den stattlichen drei Bänden nehmen die
Unterhaltungen über den Weltlauf einen unbilligen Theil der Zeilen in Anspruch.
Daher kommt es wol auch, daß zuweilen das Ungeheuerste in und mit der Fa¬
milie geschieht, und nur mit wenig Worten abgefertigt wird, z. B. als der Neffe
des Hauses vor deu Fenstern von den Franzosen erschossen wird. Dagegen sehr
gut gezeichnet sind, außer einer Anzahl Nebenfiguren, der Vetter von Quilitz, die
Hausfrau, die verständige Tochter, alle die Gestalten, welche der Verfasser mit
wenig Strichen gezeichnet hat.

Häufig war die Anlage seiner Charaktere schöner, gesünder und stärker, als die
Ausführung. Denn da, wo der Verfasser detaillirtausführen soll, sind ihm romantische,
abenteuerliche Situationen, scharfe Contraste und andere Reizmittel der Phantasie
willkommen, um mit der Lebhaftigkeit und dem Detail zu empfinden, welche für
anschauliche Darstellung nöthig ist. Er ist daher oft geneigt, seine Helden in die
wunderlichsten Situationen zu versetzen und man kann daher auch bei seinen de-


staatsmännische Weisheit und großer Blick neben grillenhafter Beschränktheit, aber
diese Verbindung ist nicht aus innerer Nothwendigkeit hervorgegangen, ist des¬
halb nicht verständlich und ist zuletzt nicht viel mehr als ein Aggregat von Ein¬
fällen des Dichters. Noch weniger gelungen ist der Kandidat Mauritz, frommer
Theologe, dann Mitglied des Tugendbundes, Liebhaber der Tochter des Edel¬
manns, bald sein Vertrauter, bald schnöde von ihm behandelt, eine Figur
ohne kräftiges, inneres Leben. Wie ist es möglich, daß er, der doch ein fein¬
fühlender braver Mann sein soll, das Liebesverhältniß mit der Tochter in solcher
Weise beginnt und fortsetzt? Wie ist es möglich, daß er, nachdem der Vater
ihn nach Entdeckung desselben tödtlich beleidigt hat, noch lange Jahre in der Familie
bleibt, und wie ist es möglich, daß der Vater selbst ihn darin duldet? Mi߬
lungen ist auch die Zeichnung des jüngern märkischen Gutsbesitzers? welcher von jüdi¬
schem Herkommen und geadelt, um die wirthschaftliche Tochter des Hauses ohne Erfolg
freit, auch ihm sind verschiedene Eigenschaften wie gelegentlich zugewiesen, welche
sich schwer in dem Charakter einer Romanfigur vereinigen lassen. Er ist industrieller
Landwirth mit plebejen merkantilischen Neigungen im Gegensatz zu dem aristo¬
kratischen Hausherrn, und wieder einmal ein betrunkener tobsüchtiger Jäger,
welcher in Rausch und Wuth den Geliebten einer andern Tochter vom Busch aus
niederschießt, und wieder ein feuriger und tapferer Freiwilliger in den Be¬
freiungskriegen, der durch den brutalen Stolz des alten Edelmanns zuletzt be¬
wogen wird, sich mit Selbstgefühl von der Tochter desselben zurückzuziehen; am
Ende heirathet er eine geniale, etwas überschwengliche Patriotin von hohem Adel.
Der Leser weiß aus dieser Figur nichts zu machen, weil der Dichter selbst diesen
Charakter und seine Consequenzen nicht deutlich genug empfunden hat.
Eine große Anzahl vou Unwahrscheinlichkeiten kamen übrigens daher, daß
der Dichter nicht Raum gehabt hat, die für Fortführung der Handlung nothwendigen
charakteristischen Züge anzubringen, denn in den stattlichen drei Bänden nehmen die
Unterhaltungen über den Weltlauf einen unbilligen Theil der Zeilen in Anspruch.
Daher kommt es wol auch, daß zuweilen das Ungeheuerste in und mit der Fa¬
milie geschieht, und nur mit wenig Worten abgefertigt wird, z. B. als der Neffe
des Hauses vor deu Fenstern von den Franzosen erschossen wird. Dagegen sehr
gut gezeichnet sind, außer einer Anzahl Nebenfiguren, der Vetter von Quilitz, die
Hausfrau, die verständige Tochter, alle die Gestalten, welche der Verfasser mit
wenig Strichen gezeichnet hat.

Häufig war die Anlage seiner Charaktere schöner, gesünder und stärker, als die
Ausführung. Denn da, wo der Verfasser detaillirtausführen soll, sind ihm romantische,
abenteuerliche Situationen, scharfe Contraste und andere Reizmittel der Phantasie
willkommen, um mit der Lebhaftigkeit und dem Detail zu empfinden, welche für
anschauliche Darstellung nöthig ist. Er ist daher oft geneigt, seine Helden in die
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[0335] staatsmännische Weisheit und großer Blick neben grillenhafter Beschränktheit, aber diese Verbindung ist nicht aus innerer Nothwendigkeit hervorgegangen, ist des¬ halb nicht verständlich und ist zuletzt nicht viel mehr als ein Aggregat von Ein¬ fällen des Dichters. Noch weniger gelungen ist der Kandidat Mauritz, frommer Theologe, dann Mitglied des Tugendbundes, Liebhaber der Tochter des Edel¬ manns, bald sein Vertrauter, bald schnöde von ihm behandelt, eine Figur ohne kräftiges, inneres Leben. Wie ist es möglich, daß er, der doch ein fein¬ fühlender braver Mann sein soll, das Liebesverhältniß mit der Tochter in solcher Weise beginnt und fortsetzt? Wie ist es möglich, daß er, nachdem der Vater ihn nach Entdeckung desselben tödtlich beleidigt hat, noch lange Jahre in der Familie bleibt, und wie ist es möglich, daß der Vater selbst ihn darin duldet? Mi߬ lungen ist auch die Zeichnung des jüngern märkischen Gutsbesitzers? welcher von jüdi¬ schem Herkommen und geadelt, um die wirthschaftliche Tochter des Hauses ohne Erfolg freit, auch ihm sind verschiedene Eigenschaften wie gelegentlich zugewiesen, welche sich schwer in dem Charakter einer Romanfigur vereinigen lassen. Er ist industrieller Landwirth mit plebejen merkantilischen Neigungen im Gegensatz zu dem aristo¬ kratischen Hausherrn, und wieder einmal ein betrunkener tobsüchtiger Jäger, welcher in Rausch und Wuth den Geliebten einer andern Tochter vom Busch aus niederschießt, und wieder ein feuriger und tapferer Freiwilliger in den Be¬ freiungskriegen, der durch den brutalen Stolz des alten Edelmanns zuletzt be¬ wogen wird, sich mit Selbstgefühl von der Tochter desselben zurückzuziehen; am Ende heirathet er eine geniale, etwas überschwengliche Patriotin von hohem Adel. Der Leser weiß aus dieser Figur nichts zu machen, weil der Dichter selbst diesen Charakter und seine Consequenzen nicht deutlich genug empfunden hat. Eine große Anzahl vou Unwahrscheinlichkeiten kamen übrigens daher, daß der Dichter nicht Raum gehabt hat, die für Fortführung der Handlung nothwendigen charakteristischen Züge anzubringen, denn in den stattlichen drei Bänden nehmen die Unterhaltungen über den Weltlauf einen unbilligen Theil der Zeilen in Anspruch. Daher kommt es wol auch, daß zuweilen das Ungeheuerste in und mit der Fa¬ milie geschieht, und nur mit wenig Worten abgefertigt wird, z. B. als der Neffe des Hauses vor deu Fenstern von den Franzosen erschossen wird. Dagegen sehr gut gezeichnet sind, außer einer Anzahl Nebenfiguren, der Vetter von Quilitz, die Hausfrau, die verständige Tochter, alle die Gestalten, welche der Verfasser mit wenig Strichen gezeichnet hat. Häufig war die Anlage seiner Charaktere schöner, gesünder und stärker, als die Ausführung. Denn da, wo der Verfasser detaillirtausführen soll, sind ihm romantische, abenteuerliche Situationen, scharfe Contraste und andere Reizmittel der Phantasie willkommen, um mit der Lebhaftigkeit und dem Detail zu empfinden, welche für anschauliche Darstellung nöthig ist. Er ist daher oft geneigt, seine Helden in die wunderlichsten Situationen zu versetzen und man kann daher auch bei seinen de-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97245/335>, abgerufen am 22.07.2024.