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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band.

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erstes Trauerspiel hervor. So gerüstet, konnte auf dem neuen Theater sogleich
mit den schwierigsten Aufgaben begonnen werden. Es entstand ein Repertoir von
Vorstellungen, unter denen Jungfrau v. Orleans, Maria Stuart, Don Carlos,
Donna Diana, Clavigo, die Braut von Messina, Hamlet, Romeo und Julie im
tragischen Fache, in andern Richtungen die neuen Lustspiele, unter den Opern
Armida, Don Juan, Freischütz, der schwarze Domino, Casilde u. s. w. als
Beispiele gelten mögen.

Noch aber ist dem Publicum selbst mit dem vollendetsten Ensemble nicht die
Möglichkeit einer ganz hingebenden Empfängnis) für das Kunstwerk dargeboten,
wenn dessen Ausstattung uicht zugleich dem historischen Moment entspricht,
worin sich sein Leben bewegt. Decoration und Costüm müssen das Mittel ab¬
geben, um die Handlungen, Charaktere, Gesinnungen, Sprachformen u. s. w.
am erklärlichsten und natürlichsten erscheinen zu lassen. Würden nun auch die
vorhistorischen Stücke Shakespeares mit diese" Mittel" in das graueste Alterthum
verlegt werden müssen, so steigt doch die Wichtigkeit dieser künstlerischen
Ausstattung bei solchen Werken, deren Handlung dem vorigen Jahrhundert
angehört. Ifflands Arbeiten, die ersten Schöpfungen Goethes und Schillers,
sowie Lesstngs Trauerspiele haben durch das Nocococostüm der Karlsruher Bühne
wirklich erst ihre eigentliche Natur und eindringliche Lebendigkeit wiedergewonnen.
Auf der andern Seite sind es aber freilich grade auch die Anhängsel des Rococo
welche die classische Schönheit und dramatische Wirkung beeinträchtigen. Mit der
neuen Einrichtung des Don Juan, mit den Abkürzungen der Armide hat Devrient
der deutschen Bühne eine große Bereicherung zugeführt. Indem Interesse und
leidenschaftliche Gewalt des dramatischen Ganges concentrirt wurden, wuchs die
Riesengröße der Meisterwerke, während sie überdies allen Theatern, welche keinen
Balletauswand machen können, darstellbar geworden sind. Dagegen hat eine
Vollständigkeit des Hamlet, welche unsers Wissens-außer Karlsruhe keine deutsche
Bühne gleichermaßen versuchte, nicht nur künstlerisch ihre Berechtigung, soudern
auch im Publicum die schlagendsten Erfolge errungen.

Es mag überhaupt als ein guter Zauber der Devricntschen Bühnenleitnng
erscheinen, zugleich ein Beweis der mächtigen Wechselwirkung zwischen Theater
und allgemeiner Bildung, wenn wir heute dasselbe Publicum Glücks Armida,
Shakespeares und der deutschen Klassiker Werke mit andachtsvoller Spannung
bewundern und mit einem Enthusiasmus krönen sehen, den es vor verhältnißmäßig
wenig Monaten sich selber nicht zutraute, da es mit französischen Knalleffectstücken,
Wiener Possen, Vaudevilles und italienischen Opern seine Amüscmcntsstunden
auszufüllen gewohut war. Meuschenveredluug ist der höchste Kunstzweck, das
Theater eines seiner wirksamsten Mittel. In Karlsruhe, hart an der Grenze
gegen Frankreich und Italien, ist damit eine neue Beste erobert, in welcher
°'u wahrhaft nationaler Geist sein Scepter schwingt. Die Heilsamkeit der


erstes Trauerspiel hervor. So gerüstet, konnte auf dem neuen Theater sogleich
mit den schwierigsten Aufgaben begonnen werden. Es entstand ein Repertoir von
Vorstellungen, unter denen Jungfrau v. Orleans, Maria Stuart, Don Carlos,
Donna Diana, Clavigo, die Braut von Messina, Hamlet, Romeo und Julie im
tragischen Fache, in andern Richtungen die neuen Lustspiele, unter den Opern
Armida, Don Juan, Freischütz, der schwarze Domino, Casilde u. s. w. als
Beispiele gelten mögen.

Noch aber ist dem Publicum selbst mit dem vollendetsten Ensemble nicht die
Möglichkeit einer ganz hingebenden Empfängnis) für das Kunstwerk dargeboten,
wenn dessen Ausstattung uicht zugleich dem historischen Moment entspricht,
worin sich sein Leben bewegt. Decoration und Costüm müssen das Mittel ab¬
geben, um die Handlungen, Charaktere, Gesinnungen, Sprachformen u. s. w.
am erklärlichsten und natürlichsten erscheinen zu lassen. Würden nun auch die
vorhistorischen Stücke Shakespeares mit diese» Mittel» in das graueste Alterthum
verlegt werden müssen, so steigt doch die Wichtigkeit dieser künstlerischen
Ausstattung bei solchen Werken, deren Handlung dem vorigen Jahrhundert
angehört. Ifflands Arbeiten, die ersten Schöpfungen Goethes und Schillers,
sowie Lesstngs Trauerspiele haben durch das Nocococostüm der Karlsruher Bühne
wirklich erst ihre eigentliche Natur und eindringliche Lebendigkeit wiedergewonnen.
Auf der andern Seite sind es aber freilich grade auch die Anhängsel des Rococo
welche die classische Schönheit und dramatische Wirkung beeinträchtigen. Mit der
neuen Einrichtung des Don Juan, mit den Abkürzungen der Armide hat Devrient
der deutschen Bühne eine große Bereicherung zugeführt. Indem Interesse und
leidenschaftliche Gewalt des dramatischen Ganges concentrirt wurden, wuchs die
Riesengröße der Meisterwerke, während sie überdies allen Theatern, welche keinen
Balletauswand machen können, darstellbar geworden sind. Dagegen hat eine
Vollständigkeit des Hamlet, welche unsers Wissens-außer Karlsruhe keine deutsche
Bühne gleichermaßen versuchte, nicht nur künstlerisch ihre Berechtigung, soudern
auch im Publicum die schlagendsten Erfolge errungen.

Es mag überhaupt als ein guter Zauber der Devricntschen Bühnenleitnng
erscheinen, zugleich ein Beweis der mächtigen Wechselwirkung zwischen Theater
und allgemeiner Bildung, wenn wir heute dasselbe Publicum Glücks Armida,
Shakespeares und der deutschen Klassiker Werke mit andachtsvoller Spannung
bewundern und mit einem Enthusiasmus krönen sehen, den es vor verhältnißmäßig
wenig Monaten sich selber nicht zutraute, da es mit französischen Knalleffectstücken,
Wiener Possen, Vaudevilles und italienischen Opern seine Amüscmcntsstunden
auszufüllen gewohut war. Meuschenveredluug ist der höchste Kunstzweck, das
Theater eines seiner wirksamsten Mittel. In Karlsruhe, hart an der Grenze
gegen Frankreich und Italien, ist damit eine neue Beste erobert, in welcher
°'u wahrhaft nationaler Geist sein Scepter schwingt. Die Heilsamkeit der


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[0309] erstes Trauerspiel hervor. So gerüstet, konnte auf dem neuen Theater sogleich mit den schwierigsten Aufgaben begonnen werden. Es entstand ein Repertoir von Vorstellungen, unter denen Jungfrau v. Orleans, Maria Stuart, Don Carlos, Donna Diana, Clavigo, die Braut von Messina, Hamlet, Romeo und Julie im tragischen Fache, in andern Richtungen die neuen Lustspiele, unter den Opern Armida, Don Juan, Freischütz, der schwarze Domino, Casilde u. s. w. als Beispiele gelten mögen. Noch aber ist dem Publicum selbst mit dem vollendetsten Ensemble nicht die Möglichkeit einer ganz hingebenden Empfängnis) für das Kunstwerk dargeboten, wenn dessen Ausstattung uicht zugleich dem historischen Moment entspricht, worin sich sein Leben bewegt. Decoration und Costüm müssen das Mittel ab¬ geben, um die Handlungen, Charaktere, Gesinnungen, Sprachformen u. s. w. am erklärlichsten und natürlichsten erscheinen zu lassen. Würden nun auch die vorhistorischen Stücke Shakespeares mit diese» Mittel» in das graueste Alterthum verlegt werden müssen, so steigt doch die Wichtigkeit dieser künstlerischen Ausstattung bei solchen Werken, deren Handlung dem vorigen Jahrhundert angehört. Ifflands Arbeiten, die ersten Schöpfungen Goethes und Schillers, sowie Lesstngs Trauerspiele haben durch das Nocococostüm der Karlsruher Bühne wirklich erst ihre eigentliche Natur und eindringliche Lebendigkeit wiedergewonnen. Auf der andern Seite sind es aber freilich grade auch die Anhängsel des Rococo welche die classische Schönheit und dramatische Wirkung beeinträchtigen. Mit der neuen Einrichtung des Don Juan, mit den Abkürzungen der Armide hat Devrient der deutschen Bühne eine große Bereicherung zugeführt. Indem Interesse und leidenschaftliche Gewalt des dramatischen Ganges concentrirt wurden, wuchs die Riesengröße der Meisterwerke, während sie überdies allen Theatern, welche keinen Balletauswand machen können, darstellbar geworden sind. Dagegen hat eine Vollständigkeit des Hamlet, welche unsers Wissens-außer Karlsruhe keine deutsche Bühne gleichermaßen versuchte, nicht nur künstlerisch ihre Berechtigung, soudern auch im Publicum die schlagendsten Erfolge errungen. Es mag überhaupt als ein guter Zauber der Devricntschen Bühnenleitnng erscheinen, zugleich ein Beweis der mächtigen Wechselwirkung zwischen Theater und allgemeiner Bildung, wenn wir heute dasselbe Publicum Glücks Armida, Shakespeares und der deutschen Klassiker Werke mit andachtsvoller Spannung bewundern und mit einem Enthusiasmus krönen sehen, den es vor verhältnißmäßig wenig Monaten sich selber nicht zutraute, da es mit französischen Knalleffectstücken, Wiener Possen, Vaudevilles und italienischen Opern seine Amüscmcntsstunden auszufüllen gewohut war. Meuschenveredluug ist der höchste Kunstzweck, das Theater eines seiner wirksamsten Mittel. In Karlsruhe, hart an der Grenze gegen Frankreich und Italien, ist damit eine neue Beste erobert, in welcher °'u wahrhaft nationaler Geist sein Scepter schwingt. Die Heilsamkeit der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97245/309>, abgerufen am 22.07.2024.