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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band.

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an die Darstellung eines höhern Dramas, feiner Conversationsstücke oder prunk-
loser Opern wenden.

Freilich gedeihen grade solche Unternehmen an den Mitteltheatern selten zur
befriedigenden Durchführung. Sie gebenden fehlenden Besuchern des ersten Ranges
die willkommene Entschuldigung: man könne derartiges heute "ur in den Theatern
ersten Ranges genießbar finden, man verderbe seinen Geschmack am verwilderten Stile
der Darsteller. Es ist viel Wahrheit in der Bemerkung. Allein waren die Logen
früher uicht tonangebend für den Geschmack, ja zuweilen selbst für das Urtheil des
Parterres? Sie haben durch ihr Zurückziehen dieses sich selber überlassen und ihm die
souveräne Kritik der Darsteller anheimgegeben. Sie haben die Theaterunternehmer
genöthigt, einem minder gebildeten Geschmack immer breitere Concessionen im
Repertoir zu machen. Ihr mangelndes Urtheil ward den Darstellern Veranlassung,
mit härteren Konturen und gröbern Farben ans die stärkeren Nerven des tiefen
Thales und der höchsten Höhen zu speculiren. Und indem sich diese Teilnahm¬
losigkeit der Logen von der Aristokratie auf die Bureaukratie, deu Börsenadel ?c.
als Mode fortsetzte, gewann natürlich jene, Thespiö-Melpomene immer größere
Macht, welche die Winkelbühnen der Hafenstädte, deren Publicum die Matrosen,
als Tages- und Svmmertheater mit Bier, Würsten und Tabaksqualm bereits in ganz
Deutschland anpflanzte. So heruntergekommen ist unseres Wissens das französische
Theater noch nicht. --

Die Andeutungen von den Wechselwirkungen des theatralischen Rückschrittes
lassen sich leicht noch viel weiter fortsetzen. Trotzdem läßt sich nicht leugnen, daß
auch hinsichtlich des Verfalls der dramatischen Kunst die allgemeine Verstimmung
ihre Klagen leicht übertreibt. Namentlich unterschätzt sie die mannigfachen An¬
fänge besserer Zustände, welche etwa seit ein einigen Orten von neuem
emporgetrieben haben. Für Reform und Regeneration der bedeutenderen Bühnen
Mittel - und Norddeutschlands sind in dieser. Zeit sogar sehr anerkennenswerthe
Anstrengungen gemacht worden. Ob freilich überall mit Erfolg und mit den
rechten Mitteln, bleibe unerörtert. Doch auch der Wille ist zu loben. Gleichzeitig
darf man indessen nicht vergessen, daß in diesen Theilen Deutschlands der Sinn
für die höhere Bedeutung des Theaters niemals gleichen Maßes abgestumpft, die
Geschmackverwilderung nicht so in Fleisch und Blut übergegangen war, wie in
nicht wenigen Gegenden Süddeutschlands und zwar ausgehend von dem Schau-
spiclrepertoir der größeren Bühnen. Die Oper, welche immermehr blos auf den
unmittelbaren Sinneseindruck berechnet ist, hat in Süddeutschland stets sorgsame
Pflege gefunden. Sie kann jedoch bei unsern Betrachtungen blos beiläufig
Frage kommen.

Wien und München waren trotzdem die beiden Hoftheater in Süddeutschland,
welche zuerst vom Schlendrian der beliebten Jntendanzleitnng dnrch aristokratische
Knnstgönner abgingen, um die technische Direction in die Hände anerkannter


an die Darstellung eines höhern Dramas, feiner Conversationsstücke oder prunk-
loser Opern wenden.

Freilich gedeihen grade solche Unternehmen an den Mitteltheatern selten zur
befriedigenden Durchführung. Sie gebenden fehlenden Besuchern des ersten Ranges
die willkommene Entschuldigung: man könne derartiges heute »ur in den Theatern
ersten Ranges genießbar finden, man verderbe seinen Geschmack am verwilderten Stile
der Darsteller. Es ist viel Wahrheit in der Bemerkung. Allein waren die Logen
früher uicht tonangebend für den Geschmack, ja zuweilen selbst für das Urtheil des
Parterres? Sie haben durch ihr Zurückziehen dieses sich selber überlassen und ihm die
souveräne Kritik der Darsteller anheimgegeben. Sie haben die Theaterunternehmer
genöthigt, einem minder gebildeten Geschmack immer breitere Concessionen im
Repertoir zu machen. Ihr mangelndes Urtheil ward den Darstellern Veranlassung,
mit härteren Konturen und gröbern Farben ans die stärkeren Nerven des tiefen
Thales und der höchsten Höhen zu speculiren. Und indem sich diese Teilnahm¬
losigkeit der Logen von der Aristokratie auf die Bureaukratie, deu Börsenadel ?c.
als Mode fortsetzte, gewann natürlich jene, Thespiö-Melpomene immer größere
Macht, welche die Winkelbühnen der Hafenstädte, deren Publicum die Matrosen,
als Tages- und Svmmertheater mit Bier, Würsten und Tabaksqualm bereits in ganz
Deutschland anpflanzte. So heruntergekommen ist unseres Wissens das französische
Theater noch nicht. —

Die Andeutungen von den Wechselwirkungen des theatralischen Rückschrittes
lassen sich leicht noch viel weiter fortsetzen. Trotzdem läßt sich nicht leugnen, daß
auch hinsichtlich des Verfalls der dramatischen Kunst die allgemeine Verstimmung
ihre Klagen leicht übertreibt. Namentlich unterschätzt sie die mannigfachen An¬
fänge besserer Zustände, welche etwa seit ein einigen Orten von neuem
emporgetrieben haben. Für Reform und Regeneration der bedeutenderen Bühnen
Mittel - und Norddeutschlands sind in dieser. Zeit sogar sehr anerkennenswerthe
Anstrengungen gemacht worden. Ob freilich überall mit Erfolg und mit den
rechten Mitteln, bleibe unerörtert. Doch auch der Wille ist zu loben. Gleichzeitig
darf man indessen nicht vergessen, daß in diesen Theilen Deutschlands der Sinn
für die höhere Bedeutung des Theaters niemals gleichen Maßes abgestumpft, die
Geschmackverwilderung nicht so in Fleisch und Blut übergegangen war, wie in
nicht wenigen Gegenden Süddeutschlands und zwar ausgehend von dem Schau-
spiclrepertoir der größeren Bühnen. Die Oper, welche immermehr blos auf den
unmittelbaren Sinneseindruck berechnet ist, hat in Süddeutschland stets sorgsame
Pflege gefunden. Sie kann jedoch bei unsern Betrachtungen blos beiläufig
Frage kommen.

Wien und München waren trotzdem die beiden Hoftheater in Süddeutschland,
welche zuerst vom Schlendrian der beliebten Jntendanzleitnng dnrch aristokratische
Knnstgönner abgingen, um die technische Direction in die Hände anerkannter


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[0264] an die Darstellung eines höhern Dramas, feiner Conversationsstücke oder prunk- loser Opern wenden. Freilich gedeihen grade solche Unternehmen an den Mitteltheatern selten zur befriedigenden Durchführung. Sie gebenden fehlenden Besuchern des ersten Ranges die willkommene Entschuldigung: man könne derartiges heute »ur in den Theatern ersten Ranges genießbar finden, man verderbe seinen Geschmack am verwilderten Stile der Darsteller. Es ist viel Wahrheit in der Bemerkung. Allein waren die Logen früher uicht tonangebend für den Geschmack, ja zuweilen selbst für das Urtheil des Parterres? Sie haben durch ihr Zurückziehen dieses sich selber überlassen und ihm die souveräne Kritik der Darsteller anheimgegeben. Sie haben die Theaterunternehmer genöthigt, einem minder gebildeten Geschmack immer breitere Concessionen im Repertoir zu machen. Ihr mangelndes Urtheil ward den Darstellern Veranlassung, mit härteren Konturen und gröbern Farben ans die stärkeren Nerven des tiefen Thales und der höchsten Höhen zu speculiren. Und indem sich diese Teilnahm¬ losigkeit der Logen von der Aristokratie auf die Bureaukratie, deu Börsenadel ?c. als Mode fortsetzte, gewann natürlich jene, Thespiö-Melpomene immer größere Macht, welche die Winkelbühnen der Hafenstädte, deren Publicum die Matrosen, als Tages- und Svmmertheater mit Bier, Würsten und Tabaksqualm bereits in ganz Deutschland anpflanzte. So heruntergekommen ist unseres Wissens das französische Theater noch nicht. — Die Andeutungen von den Wechselwirkungen des theatralischen Rückschrittes lassen sich leicht noch viel weiter fortsetzen. Trotzdem läßt sich nicht leugnen, daß auch hinsichtlich des Verfalls der dramatischen Kunst die allgemeine Verstimmung ihre Klagen leicht übertreibt. Namentlich unterschätzt sie die mannigfachen An¬ fänge besserer Zustände, welche etwa seit ein einigen Orten von neuem emporgetrieben haben. Für Reform und Regeneration der bedeutenderen Bühnen Mittel - und Norddeutschlands sind in dieser. Zeit sogar sehr anerkennenswerthe Anstrengungen gemacht worden. Ob freilich überall mit Erfolg und mit den rechten Mitteln, bleibe unerörtert. Doch auch der Wille ist zu loben. Gleichzeitig darf man indessen nicht vergessen, daß in diesen Theilen Deutschlands der Sinn für die höhere Bedeutung des Theaters niemals gleichen Maßes abgestumpft, die Geschmackverwilderung nicht so in Fleisch und Blut übergegangen war, wie in nicht wenigen Gegenden Süddeutschlands und zwar ausgehend von dem Schau- spiclrepertoir der größeren Bühnen. Die Oper, welche immermehr blos auf den unmittelbaren Sinneseindruck berechnet ist, hat in Süddeutschland stets sorgsame Pflege gefunden. Sie kann jedoch bei unsern Betrachtungen blos beiläufig Frage kommen. Wien und München waren trotzdem die beiden Hoftheater in Süddeutschland, welche zuerst vom Schlendrian der beliebten Jntendanzleitnng dnrch aristokratische Knnstgönner abgingen, um die technische Direction in die Hände anerkannter

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97245/264>, abgerufen am 02.10.2024.