Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

sein, da wir z. B. bei Goethe und anderen verehrten Männern grade das
Gegentheil wahrgenommen haben. Nachher aber stellt er die Frage auf, was
ist Poesie, und gibt folgende Antwort "mit glühendem Gesicht und einer Thräne
im Auge", um jedes ironische Lächeln abzuschneiden: Wenn man auf einen Eich¬
baum steigt; wenn man sich einem Fischer am Meere auf die Schultern setzt und
ihm die Odyssee ans das struppige Haar legt; wenn man zu dreien oder vieren
ausreitet; wenn man Nachts auf langen Brücken fährt; wenn man eine Kahnfahrt
macht; wenn man einen Neger in Gummischuhen im Tauwerk betrachtet; wenn
ein Pferd einen Reiter abwirft und ihn zerschmettert n. s. w. Nun klingt auf
den ersten Anblick diese Vorstellung freilich sonderbar, denn Freiligrath hätte noch
eine ganz beliebige Menge anderer Dinge anführen können und sie ebensogut
als Poesie bezeichnen wie dasjenige, was er im obigen angibt, aber er hat in
der Sache ganz recht, wenn er sich anch ungeschickt ausdrückt. Das alles, was
er anführt, ist zwar nicht Poesie, aber es sind poetische Stoffe, mit einem Wort,
der Stoff der Poesie kann nur das wirkliche Leben sein, die Poesie selbst ist
Stoff für die Prosa, d. h. für die Kritik. Ausnahmsweise kann es freilich
vorkommen, daß man eine feine, kritische Bemerkung zu einer so seinen Form
ausputzt, daß sie halbwegs für ein Gedicht angesehen werden konnte, aber
das kann eben nnr Ausnahme sein. Und wenn es beiden deutschen, wenigstens
bei einigen Schulen beinahe zur Regel geworden ist, so liegt darin gewiß eine
arge Verirrung. ' Es sieht fast so ans, als wollte ein Speisewirth einem hung¬
rigen Gaste statt der Speise das Kochbuch geben. Die Recepte, wie man ein
gutes Gedicht macht, muß der Dichter allerdings anch haben, so gut wie der
Kritiker, weil ihm sonst das bloße Talent nickt ausreichen wird, einen allgemein
befriedigenden Eindruck zu machen; aber das untergeordnete Geschäft, dieses Recept
dem Publicum mitzutheilen, möge er dem Kritiker überlassen, oder, wenn er
glaubt, darüber etwas Besseres sagen zu können, als die gewöhnlichen Kritiker,
so möge er in Prosa schreiben. Verflficirte Prosa ist das Unerträglichste, was
sich denken läßt, und wir können uns des unangenehmen Bekenntnisses nicht
erwehren, die meisten der mitgetheilten Gedichte sind verflficirte Prosa. Ganz
anders ist es, wenn uns ein Dichter ein Bild aufstellt, das für sich einen selbst¬
ständigen Werth in Anspruch nimmt und in welchem nur die Idee der Poesie
durchklingt, wie Goethe im "Sänger", Schiller im "Mädchen ans der Fremde"
und in der "Macht des Gesangs". Aber man lese doch z. B. diese Recepte
von Platen, von Rückert, von Schlegel n. s. w., wie man, gute Gedichte machen
Müsse und mau wird doch in mancher Zeitnngscorrespondenz viel mehr Poesie
finden. -- Noch viel schlimmer sind aber die wirklich ausgeschriebenen Recensionen
in Versen, wenn sie etwas Anderes sein sollen, als der Ausdruck der unmittelbaren
individuellen Empfindung. Wenn Goethe zehn Jahre nach dem Tode seines
Freundes Schiller sein gemüthliches Verhältniß zum Hingeschiedenen und seine


sein, da wir z. B. bei Goethe und anderen verehrten Männern grade das
Gegentheil wahrgenommen haben. Nachher aber stellt er die Frage auf, was
ist Poesie, und gibt folgende Antwort „mit glühendem Gesicht und einer Thräne
im Auge", um jedes ironische Lächeln abzuschneiden: Wenn man auf einen Eich¬
baum steigt; wenn man sich einem Fischer am Meere auf die Schultern setzt und
ihm die Odyssee ans das struppige Haar legt; wenn man zu dreien oder vieren
ausreitet; wenn man Nachts auf langen Brücken fährt; wenn man eine Kahnfahrt
macht; wenn man einen Neger in Gummischuhen im Tauwerk betrachtet; wenn
ein Pferd einen Reiter abwirft und ihn zerschmettert n. s. w. Nun klingt auf
den ersten Anblick diese Vorstellung freilich sonderbar, denn Freiligrath hätte noch
eine ganz beliebige Menge anderer Dinge anführen können und sie ebensogut
als Poesie bezeichnen wie dasjenige, was er im obigen angibt, aber er hat in
der Sache ganz recht, wenn er sich anch ungeschickt ausdrückt. Das alles, was
er anführt, ist zwar nicht Poesie, aber es sind poetische Stoffe, mit einem Wort,
der Stoff der Poesie kann nur das wirkliche Leben sein, die Poesie selbst ist
Stoff für die Prosa, d. h. für die Kritik. Ausnahmsweise kann es freilich
vorkommen, daß man eine feine, kritische Bemerkung zu einer so seinen Form
ausputzt, daß sie halbwegs für ein Gedicht angesehen werden konnte, aber
das kann eben nnr Ausnahme sein. Und wenn es beiden deutschen, wenigstens
bei einigen Schulen beinahe zur Regel geworden ist, so liegt darin gewiß eine
arge Verirrung. ' Es sieht fast so ans, als wollte ein Speisewirth einem hung¬
rigen Gaste statt der Speise das Kochbuch geben. Die Recepte, wie man ein
gutes Gedicht macht, muß der Dichter allerdings anch haben, so gut wie der
Kritiker, weil ihm sonst das bloße Talent nickt ausreichen wird, einen allgemein
befriedigenden Eindruck zu machen; aber das untergeordnete Geschäft, dieses Recept
dem Publicum mitzutheilen, möge er dem Kritiker überlassen, oder, wenn er
glaubt, darüber etwas Besseres sagen zu können, als die gewöhnlichen Kritiker,
so möge er in Prosa schreiben. Verflficirte Prosa ist das Unerträglichste, was
sich denken läßt, und wir können uns des unangenehmen Bekenntnisses nicht
erwehren, die meisten der mitgetheilten Gedichte sind verflficirte Prosa. Ganz
anders ist es, wenn uns ein Dichter ein Bild aufstellt, das für sich einen selbst¬
ständigen Werth in Anspruch nimmt und in welchem nur die Idee der Poesie
durchklingt, wie Goethe im „Sänger", Schiller im „Mädchen ans der Fremde"
und in der „Macht des Gesangs". Aber man lese doch z. B. diese Recepte
von Platen, von Rückert, von Schlegel n. s. w., wie man, gute Gedichte machen
Müsse und mau wird doch in mancher Zeitnngscorrespondenz viel mehr Poesie
finden. — Noch viel schlimmer sind aber die wirklich ausgeschriebenen Recensionen
in Versen, wenn sie etwas Anderes sein sollen, als der Ausdruck der unmittelbaren
individuellen Empfindung. Wenn Goethe zehn Jahre nach dem Tode seines
Freundes Schiller sein gemüthliches Verhältniß zum Hingeschiedenen und seine


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0261" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/97507"/>
          <p xml:id="ID_663" prev="#ID_662" next="#ID_664"> sein, da wir z. B. bei Goethe und anderen verehrten Männern grade das<lb/>
Gegentheil wahrgenommen haben. Nachher aber stellt er die Frage auf, was<lb/>
ist Poesie, und gibt folgende Antwort &#x201E;mit glühendem Gesicht und einer Thräne<lb/>
im Auge", um jedes ironische Lächeln abzuschneiden: Wenn man auf einen Eich¬<lb/>
baum steigt; wenn man sich einem Fischer am Meere auf die Schultern setzt und<lb/>
ihm die Odyssee ans das struppige Haar legt; wenn man zu dreien oder vieren<lb/>
ausreitet; wenn man Nachts auf langen Brücken fährt; wenn man eine Kahnfahrt<lb/>
macht; wenn man einen Neger in Gummischuhen im Tauwerk betrachtet; wenn<lb/>
ein Pferd einen Reiter abwirft und ihn zerschmettert n. s. w. Nun klingt auf<lb/>
den ersten Anblick diese Vorstellung freilich sonderbar, denn Freiligrath hätte noch<lb/>
eine ganz beliebige Menge anderer Dinge anführen können und sie ebensogut<lb/>
als Poesie bezeichnen wie dasjenige, was er im obigen angibt, aber er hat in<lb/>
der Sache ganz recht, wenn er sich anch ungeschickt ausdrückt. Das alles, was<lb/>
er anführt, ist zwar nicht Poesie, aber es sind poetische Stoffe, mit einem Wort,<lb/>
der Stoff der Poesie kann nur das wirkliche Leben sein, die Poesie selbst ist<lb/>
Stoff für die Prosa, d. h. für die Kritik. Ausnahmsweise kann es freilich<lb/>
vorkommen, daß man eine feine, kritische Bemerkung zu einer so seinen Form<lb/>
ausputzt, daß sie halbwegs für ein Gedicht angesehen werden konnte, aber<lb/>
das kann eben nnr Ausnahme sein. Und wenn es beiden deutschen, wenigstens<lb/>
bei einigen Schulen beinahe zur Regel geworden ist, so liegt darin gewiß eine<lb/>
arge Verirrung. ' Es sieht fast so ans, als wollte ein Speisewirth einem hung¬<lb/>
rigen Gaste statt der Speise das Kochbuch geben. Die Recepte, wie man ein<lb/>
gutes Gedicht macht, muß der Dichter allerdings anch haben, so gut wie der<lb/>
Kritiker, weil ihm sonst das bloße Talent nickt ausreichen wird, einen allgemein<lb/>
befriedigenden Eindruck zu machen; aber das untergeordnete Geschäft, dieses Recept<lb/>
dem Publicum mitzutheilen, möge er dem Kritiker überlassen, oder, wenn er<lb/>
glaubt, darüber etwas Besseres sagen zu können, als die gewöhnlichen Kritiker,<lb/>
so möge er in Prosa schreiben. Verflficirte Prosa ist das Unerträglichste, was<lb/>
sich denken läßt, und wir können uns des unangenehmen Bekenntnisses nicht<lb/>
erwehren, die meisten der mitgetheilten Gedichte sind verflficirte Prosa. Ganz<lb/>
anders ist es, wenn uns ein Dichter ein Bild aufstellt, das für sich einen selbst¬<lb/>
ständigen Werth in Anspruch nimmt und in welchem nur die Idee der Poesie<lb/>
durchklingt, wie Goethe im &#x201E;Sänger", Schiller im &#x201E;Mädchen ans der Fremde"<lb/>
und in der &#x201E;Macht des Gesangs". Aber man lese doch z. B. diese Recepte<lb/>
von Platen, von Rückert, von Schlegel n. s. w., wie man, gute Gedichte machen<lb/>
Müsse und mau wird doch in mancher Zeitnngscorrespondenz viel mehr Poesie<lb/>
finden. &#x2014; Noch viel schlimmer sind aber die wirklich ausgeschriebenen Recensionen<lb/>
in Versen, wenn sie etwas Anderes sein sollen, als der Ausdruck der unmittelbaren<lb/>
individuellen Empfindung. Wenn Goethe zehn Jahre nach dem Tode seines<lb/>
Freundes Schiller sein gemüthliches Verhältniß zum Hingeschiedenen und seine</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0261] sein, da wir z. B. bei Goethe und anderen verehrten Männern grade das Gegentheil wahrgenommen haben. Nachher aber stellt er die Frage auf, was ist Poesie, und gibt folgende Antwort „mit glühendem Gesicht und einer Thräne im Auge", um jedes ironische Lächeln abzuschneiden: Wenn man auf einen Eich¬ baum steigt; wenn man sich einem Fischer am Meere auf die Schultern setzt und ihm die Odyssee ans das struppige Haar legt; wenn man zu dreien oder vieren ausreitet; wenn man Nachts auf langen Brücken fährt; wenn man eine Kahnfahrt macht; wenn man einen Neger in Gummischuhen im Tauwerk betrachtet; wenn ein Pferd einen Reiter abwirft und ihn zerschmettert n. s. w. Nun klingt auf den ersten Anblick diese Vorstellung freilich sonderbar, denn Freiligrath hätte noch eine ganz beliebige Menge anderer Dinge anführen können und sie ebensogut als Poesie bezeichnen wie dasjenige, was er im obigen angibt, aber er hat in der Sache ganz recht, wenn er sich anch ungeschickt ausdrückt. Das alles, was er anführt, ist zwar nicht Poesie, aber es sind poetische Stoffe, mit einem Wort, der Stoff der Poesie kann nur das wirkliche Leben sein, die Poesie selbst ist Stoff für die Prosa, d. h. für die Kritik. Ausnahmsweise kann es freilich vorkommen, daß man eine feine, kritische Bemerkung zu einer so seinen Form ausputzt, daß sie halbwegs für ein Gedicht angesehen werden konnte, aber das kann eben nnr Ausnahme sein. Und wenn es beiden deutschen, wenigstens bei einigen Schulen beinahe zur Regel geworden ist, so liegt darin gewiß eine arge Verirrung. ' Es sieht fast so ans, als wollte ein Speisewirth einem hung¬ rigen Gaste statt der Speise das Kochbuch geben. Die Recepte, wie man ein gutes Gedicht macht, muß der Dichter allerdings anch haben, so gut wie der Kritiker, weil ihm sonst das bloße Talent nickt ausreichen wird, einen allgemein befriedigenden Eindruck zu machen; aber das untergeordnete Geschäft, dieses Recept dem Publicum mitzutheilen, möge er dem Kritiker überlassen, oder, wenn er glaubt, darüber etwas Besseres sagen zu können, als die gewöhnlichen Kritiker, so möge er in Prosa schreiben. Verflficirte Prosa ist das Unerträglichste, was sich denken läßt, und wir können uns des unangenehmen Bekenntnisses nicht erwehren, die meisten der mitgetheilten Gedichte sind verflficirte Prosa. Ganz anders ist es, wenn uns ein Dichter ein Bild aufstellt, das für sich einen selbst¬ ständigen Werth in Anspruch nimmt und in welchem nur die Idee der Poesie durchklingt, wie Goethe im „Sänger", Schiller im „Mädchen ans der Fremde" und in der „Macht des Gesangs". Aber man lese doch z. B. diese Recepte von Platen, von Rückert, von Schlegel n. s. w., wie man, gute Gedichte machen Müsse und mau wird doch in mancher Zeitnngscorrespondenz viel mehr Poesie finden. — Noch viel schlimmer sind aber die wirklich ausgeschriebenen Recensionen in Versen, wenn sie etwas Anderes sein sollen, als der Ausdruck der unmittelbaren individuellen Empfindung. Wenn Goethe zehn Jahre nach dem Tode seines Freundes Schiller sein gemüthliches Verhältniß zum Hingeschiedenen und seine

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97245
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97245/261
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97245/261>, abgerufen am 22.07.2024.