Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Naturkraft die Zurechnungsfähigkeit der Einzelnen nicht auf, denn bei jedem
lnnzelueu Ereignis; ist doch das Gewissen in Anschlag zu bringen; aber für die
wirkliche Geschichte ist diese Schuldvertheilung unter die Einzelnen etwas sehr
Gleichgültiges. Man würde irren, wenn man diese Betrachtung, die nur für den
Naturproceß der französische" Revolution ihre Geltung hat, auf das gesanunte
Gebiet der Geschichte oder auch "ur auf sämmtliche Revolutionen anwenden wollte;
bei jeder anderen tritt die individuelle Thätigkeit viel eindringlicher und bedeu¬
tender hervor. Aber in jener merkwürdigen Zeit von 4 789 bis -1816 war in
den Thatsachen eine Logik und eine innere Konsequenz, die noch hente auf uus
einen erschütternden und zugleich bezaubernden Eindruck macht und die wir nicht
vergessen dürfen, wenn wir uns durch eine detaillirte Beschreibung in die Mitte
der Ereignisse versetzt sehen und über dem Eindruck der uus zunächst umgebenden
Kleinlichkeit die richtigen Dimensionen verlieren, die nur die Perspektive gibt.




Wochenbericht.
Pariser Brief,

-- Die orientalische Frage ist ohne Frage der
größte Virtuose der Welt. Denn so viele rend abwechselnde Variationen aus der 6-
Saite hat auch Pagciuini nicht zu Stande gebracht. Wenn wir sagen die orienta¬
lische Frage, so verstehen wir darunter den großen allmächtigen Herrn, den Diplomaten
der Diplomaten, den Zar. Der Reichthum an Originalität, den der Kaiser von Nußland
bisher entwickelt, überrascht selbst diejenigen, welche keine geringe Idee von den Ressourcen
dieses Herrn hatten. Seine neueste Operation übersteigt in der That jede Erwartung,
und was Wunder, wenn die nordische Frage die orientalische vorläufig in den Hin¬
tergrund gerückt?

Was hat man uns nicht alles versichert, daß die Einfahrt der Flotten ins
schwarze Meer sehr ungnädig, wo nicht als Kriegsfall in Se. Petersburg ausgenommen
werden würde. General Castclbajac hat es an seine Regierung berichtet, Lord Seymour
hat es nach London gemeldet, von Wien, von Berlin, von London nach Paris und
von Paris nach London wurde es telegraphirt! Die Börse zitterte, daß ihr die Drei-
vroceutigeu und alle Eisenbahnen aus den Händen fielen -- sogar Herr Miras, der
große Miras, der Midas der modernen Handelswelt, bekam Angst und- glaubte an den
Krieg. I" dichte Wolken ist der politische Horizont gehüllt und wetteifert mit dem
wirklichen schwefelgelben Patentncbcl, den uns ein günstiger Wind nach Paris getrie¬
ben. Nichts rettet mehr vor Fall und Sturz. Rothschild streut Asche auf sein
Haupt und zieht ein hären Kleid an nach der Sitte seiner Väter.---Da
sprach der Herr, der eigentliche Herr, der russische: es werde Licht! und siehe, es
ward Licht.

Die Bourseurc schlugen erfreut die Augen auf und jauchzten ihren Papieren nach,
die stiegen wie ein Stück Kork im Wasser. Und was war denn geschehe"? Was hatte
uns so Plötzlich beglückt? Der Zar hat den Besuch der Flotten im schwarzen Meere,


Grcnjl'vier, I, .,"kli, 30

Naturkraft die Zurechnungsfähigkeit der Einzelnen nicht auf, denn bei jedem
lnnzelueu Ereignis; ist doch das Gewissen in Anschlag zu bringen; aber für die
wirkliche Geschichte ist diese Schuldvertheilung unter die Einzelnen etwas sehr
Gleichgültiges. Man würde irren, wenn man diese Betrachtung, die nur für den
Naturproceß der französische» Revolution ihre Geltung hat, auf das gesanunte
Gebiet der Geschichte oder auch »ur auf sämmtliche Revolutionen anwenden wollte;
bei jeder anderen tritt die individuelle Thätigkeit viel eindringlicher und bedeu¬
tender hervor. Aber in jener merkwürdigen Zeit von 4 789 bis -1816 war in
den Thatsachen eine Logik und eine innere Konsequenz, die noch hente auf uus
einen erschütternden und zugleich bezaubernden Eindruck macht und die wir nicht
vergessen dürfen, wenn wir uns durch eine detaillirte Beschreibung in die Mitte
der Ereignisse versetzt sehen und über dem Eindruck der uus zunächst umgebenden
Kleinlichkeit die richtigen Dimensionen verlieren, die nur die Perspektive gibt.




Wochenbericht.
Pariser Brief,

— Die orientalische Frage ist ohne Frage der
größte Virtuose der Welt. Denn so viele rend abwechselnde Variationen aus der 6-
Saite hat auch Pagciuini nicht zu Stande gebracht. Wenn wir sagen die orienta¬
lische Frage, so verstehen wir darunter den großen allmächtigen Herrn, den Diplomaten
der Diplomaten, den Zar. Der Reichthum an Originalität, den der Kaiser von Nußland
bisher entwickelt, überrascht selbst diejenigen, welche keine geringe Idee von den Ressourcen
dieses Herrn hatten. Seine neueste Operation übersteigt in der That jede Erwartung,
und was Wunder, wenn die nordische Frage die orientalische vorläufig in den Hin¬
tergrund gerückt?

Was hat man uns nicht alles versichert, daß die Einfahrt der Flotten ins
schwarze Meer sehr ungnädig, wo nicht als Kriegsfall in Se. Petersburg ausgenommen
werden würde. General Castclbajac hat es an seine Regierung berichtet, Lord Seymour
hat es nach London gemeldet, von Wien, von Berlin, von London nach Paris und
von Paris nach London wurde es telegraphirt! Die Börse zitterte, daß ihr die Drei-
vroceutigeu und alle Eisenbahnen aus den Händen fielen — sogar Herr Miras, der
große Miras, der Midas der modernen Handelswelt, bekam Angst und- glaubte an den
Krieg. I« dichte Wolken ist der politische Horizont gehüllt und wetteifert mit dem
wirklichen schwefelgelben Patentncbcl, den uns ein günstiger Wind nach Paris getrie¬
ben. Nichts rettet mehr vor Fall und Sturz. Rothschild streut Asche auf sein
Haupt und zieht ein hären Kleid an nach der Sitte seiner Väter.---Da
sprach der Herr, der eigentliche Herr, der russische: es werde Licht! und siehe, es
ward Licht.

Die Bourseurc schlugen erfreut die Augen auf und jauchzten ihren Papieren nach,
die stiegen wie ein Stück Kork im Wasser. Und was war denn geschehe»? Was hatte
uns so Plötzlich beglückt? Der Zar hat den Besuch der Flotten im schwarzen Meere,


Grcnjl'vier, I, .,»kli, 30
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0241" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/97487"/>
          <p xml:id="ID_619" prev="#ID_618"> Naturkraft die Zurechnungsfähigkeit der Einzelnen nicht auf, denn bei jedem<lb/>
lnnzelueu Ereignis; ist doch das Gewissen in Anschlag zu bringen; aber für die<lb/>
wirkliche Geschichte ist diese Schuldvertheilung unter die Einzelnen etwas sehr<lb/>
Gleichgültiges. Man würde irren, wenn man diese Betrachtung, die nur für den<lb/>
Naturproceß der französische» Revolution ihre Geltung hat, auf das gesanunte<lb/>
Gebiet der Geschichte oder auch »ur auf sämmtliche Revolutionen anwenden wollte;<lb/>
bei jeder anderen tritt die individuelle Thätigkeit viel eindringlicher und bedeu¬<lb/>
tender hervor. Aber in jener merkwürdigen Zeit von 4 789 bis -1816 war in<lb/>
den Thatsachen eine Logik und eine innere Konsequenz, die noch hente auf uus<lb/>
einen erschütternden und zugleich bezaubernden Eindruck macht und die wir nicht<lb/>
vergessen dürfen, wenn wir uns durch eine detaillirte Beschreibung in die Mitte<lb/>
der Ereignisse versetzt sehen und über dem Eindruck der uus zunächst umgebenden<lb/>
Kleinlichkeit die richtigen Dimensionen verlieren, die nur die Perspektive gibt.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Wochenbericht.</head><lb/>
          <div n="2">
            <head> Pariser Brief,</head>
            <p xml:id="ID_620"> &#x2014; Die orientalische Frage ist ohne Frage der<lb/>
größte Virtuose der Welt. Denn so viele rend abwechselnde Variationen aus der 6-<lb/>
Saite hat auch Pagciuini nicht zu Stande gebracht. Wenn wir sagen die orienta¬<lb/>
lische Frage, so verstehen wir darunter den großen allmächtigen Herrn, den Diplomaten<lb/>
der Diplomaten, den Zar. Der Reichthum an Originalität, den der Kaiser von Nußland<lb/>
bisher entwickelt, überrascht selbst diejenigen, welche keine geringe Idee von den Ressourcen<lb/>
dieses Herrn hatten. Seine neueste Operation übersteigt in der That jede Erwartung,<lb/>
und was Wunder, wenn die nordische Frage die orientalische vorläufig in den Hin¬<lb/>
tergrund gerückt?</p><lb/>
            <p xml:id="ID_621"> Was hat man uns nicht alles versichert, daß die Einfahrt der Flotten ins<lb/>
schwarze Meer sehr ungnädig, wo nicht als Kriegsfall in Se. Petersburg ausgenommen<lb/>
werden würde. General Castclbajac hat es an seine Regierung berichtet, Lord Seymour<lb/>
hat es nach London gemeldet, von Wien, von Berlin, von London nach Paris und<lb/>
von Paris nach London wurde es telegraphirt! Die Börse zitterte, daß ihr die Drei-<lb/>
vroceutigeu und alle Eisenbahnen aus den Händen fielen &#x2014; sogar Herr Miras, der<lb/>
große Miras, der Midas der modernen Handelswelt, bekam Angst und- glaubte an den<lb/>
Krieg. I« dichte Wolken ist der politische Horizont gehüllt und wetteifert mit dem<lb/>
wirklichen schwefelgelben Patentncbcl, den uns ein günstiger Wind nach Paris getrie¬<lb/>
ben.    Nichts rettet mehr vor Fall und Sturz.  Rothschild streut Asche auf sein<lb/>
Haupt und zieht ein hären Kleid an nach der Sitte seiner Väter.---Da<lb/>
sprach der Herr, der eigentliche Herr, der russische: es werde Licht! und siehe, es<lb/>
ward Licht.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_622" next="#ID_623"> Die Bourseurc schlugen erfreut die Augen auf und jauchzten ihren Papieren nach,<lb/>
die stiegen wie ein Stück Kork im Wasser.  Und was war denn geschehe»? Was hatte<lb/>
uns so Plötzlich beglückt? Der Zar hat den Besuch der Flotten im schwarzen Meere,</p><lb/>
            <fw type="sig" place="bottom"> Grcnjl'vier, I, .,»kli, 30</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0241] Naturkraft die Zurechnungsfähigkeit der Einzelnen nicht auf, denn bei jedem lnnzelueu Ereignis; ist doch das Gewissen in Anschlag zu bringen; aber für die wirkliche Geschichte ist diese Schuldvertheilung unter die Einzelnen etwas sehr Gleichgültiges. Man würde irren, wenn man diese Betrachtung, die nur für den Naturproceß der französische» Revolution ihre Geltung hat, auf das gesanunte Gebiet der Geschichte oder auch »ur auf sämmtliche Revolutionen anwenden wollte; bei jeder anderen tritt die individuelle Thätigkeit viel eindringlicher und bedeu¬ tender hervor. Aber in jener merkwürdigen Zeit von 4 789 bis -1816 war in den Thatsachen eine Logik und eine innere Konsequenz, die noch hente auf uus einen erschütternden und zugleich bezaubernden Eindruck macht und die wir nicht vergessen dürfen, wenn wir uns durch eine detaillirte Beschreibung in die Mitte der Ereignisse versetzt sehen und über dem Eindruck der uus zunächst umgebenden Kleinlichkeit die richtigen Dimensionen verlieren, die nur die Perspektive gibt. Wochenbericht. Pariser Brief, — Die orientalische Frage ist ohne Frage der größte Virtuose der Welt. Denn so viele rend abwechselnde Variationen aus der 6- Saite hat auch Pagciuini nicht zu Stande gebracht. Wenn wir sagen die orienta¬ lische Frage, so verstehen wir darunter den großen allmächtigen Herrn, den Diplomaten der Diplomaten, den Zar. Der Reichthum an Originalität, den der Kaiser von Nußland bisher entwickelt, überrascht selbst diejenigen, welche keine geringe Idee von den Ressourcen dieses Herrn hatten. Seine neueste Operation übersteigt in der That jede Erwartung, und was Wunder, wenn die nordische Frage die orientalische vorläufig in den Hin¬ tergrund gerückt? Was hat man uns nicht alles versichert, daß die Einfahrt der Flotten ins schwarze Meer sehr ungnädig, wo nicht als Kriegsfall in Se. Petersburg ausgenommen werden würde. General Castclbajac hat es an seine Regierung berichtet, Lord Seymour hat es nach London gemeldet, von Wien, von Berlin, von London nach Paris und von Paris nach London wurde es telegraphirt! Die Börse zitterte, daß ihr die Drei- vroceutigeu und alle Eisenbahnen aus den Händen fielen — sogar Herr Miras, der große Miras, der Midas der modernen Handelswelt, bekam Angst und- glaubte an den Krieg. I« dichte Wolken ist der politische Horizont gehüllt und wetteifert mit dem wirklichen schwefelgelben Patentncbcl, den uns ein günstiger Wind nach Paris getrie¬ ben. Nichts rettet mehr vor Fall und Sturz. Rothschild streut Asche auf sein Haupt und zieht ein hären Kleid an nach der Sitte seiner Väter.---Da sprach der Herr, der eigentliche Herr, der russische: es werde Licht! und siehe, es ward Licht. Die Bourseurc schlugen erfreut die Augen auf und jauchzten ihren Papieren nach, die stiegen wie ein Stück Kork im Wasser. Und was war denn geschehe»? Was hatte uns so Plötzlich beglückt? Der Zar hat den Besuch der Flotten im schwarzen Meere, Grcnjl'vier, I, .,»kli, 30

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97245
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97245/241
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97245/241>, abgerufen am 22.07.2024.