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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band.

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Fleisch und Blut, als sein Mündel, er ist von vornherein viel zu resignirt, hin¬
gebend und aufopfernd, um menschliche Theilnahme in uns zu errege". Dickens
begeht in solchen Fällen häufig den Fehler, in der Hervorhebung der idealen
Seiten eiues Charakters sich um seine endlichen Beschäftigungen, um die Prosa
seiner Wirklichkeit nicht zu bekümmern. Allein jeder Dichter sollte es sich zur
Aufgabe mache", wenigstens in Gedanken sich seine Helden auch in ihrer Alltäg¬
lichkeit vorzustellen, sich zu fragen, womit sie sich in der Regel den Tag über be¬
schäftigen, weil nur dadurch die Charaktere Realität gewinnen.

Alles, was wir bis jetzt betrachtet habe", ist immer noch die beste Seite
des Romans und der kleinere Theil desselben. Die eigentliche Masse wird durch
eine Reihe schauderhafter und widerwärtiger Personen und Zustände gebildet, die
entweder gar keine Beziehung zum Roman haben oder die wenigstens durch ihren
Einfluß auf die Handlung nicht zu einer so empörenden Ausführlichkeit berech¬
tigen. Es scheint, als ob alle Irrenhäuser, alle Lazarethe, alle Cloaken ihre
wüsten Bewohner ausgespien haben, um sie hier in einem engen Raume zusam¬
menzudrängen. Die ekelhaften Scenen, die sich hart aneinander drängen, sind
viel ärger, als die Mysterien von Engen Sue, und sie beleidigen um so mehr,
weil sie mit einem so unnennbaren Talent ausgeführt sind. Wie ist es möglich,
daß ein Dichter wie Dickens eine solche Scene beschreibt, wie den Selbstver-
brennungsprvceß des versoffenen Trödlers, oder die Scenen zwischen dem wür¬
digen Ehepaar Smallweed.

Jene Scenen sind von einer gräßlichen realistischen Wahrheit, aber wie un¬
würdig ist es eines Künstlers, die gemeinen physische" Zuckungen des Fleisches
mit jener Wollust nachzuempfinden, wie es hier Dickens gethan. Es gibt in der
Geschichte der Medicin noch viel scheußlichere Krankheiten als er beschreibt,
und er hat in der That soviel Gewalt über unsre Einbildungskraft, daß uns bei
seinen Schilderungen übel werden muß, daß wir, was er uns darstellt, nicht
blos sehen und hören, sondern auch riechen und schmecken^ aber Gott verhüte es,
daß sich diese Manie, die gemeine Physik zum Gegenstand der Poesie zu mache",
auch der besseren Dichter bemächtige! Die Darstellung des physischen Leidens ist
in der Dichtung nur soweit berechtigt, als zur Darstellung deö moralischen und
psychologische" Inhalts nothwendig ist; jeder Schritt über diese Grenze hinaus
ist eine Sünde am heiligen Geist.,

Möchte der Dichter, dessen Begabung wir so hoch verehren, dessen frohes
gläubiges Gemüth uns so manche schöne Stunde bereitet hat, recht bald durch
ein neues Werk den schlimmen Eindruck wieder auslöschen, den diese arge Ver-
irrung seiner Phantasie auf uns gemacht hat.




Fleisch und Blut, als sein Mündel, er ist von vornherein viel zu resignirt, hin¬
gebend und aufopfernd, um menschliche Theilnahme in uns zu errege». Dickens
begeht in solchen Fällen häufig den Fehler, in der Hervorhebung der idealen
Seiten eiues Charakters sich um seine endlichen Beschäftigungen, um die Prosa
seiner Wirklichkeit nicht zu bekümmern. Allein jeder Dichter sollte es sich zur
Aufgabe mache», wenigstens in Gedanken sich seine Helden auch in ihrer Alltäg¬
lichkeit vorzustellen, sich zu fragen, womit sie sich in der Regel den Tag über be¬
schäftigen, weil nur dadurch die Charaktere Realität gewinnen.

Alles, was wir bis jetzt betrachtet habe», ist immer noch die beste Seite
des Romans und der kleinere Theil desselben. Die eigentliche Masse wird durch
eine Reihe schauderhafter und widerwärtiger Personen und Zustände gebildet, die
entweder gar keine Beziehung zum Roman haben oder die wenigstens durch ihren
Einfluß auf die Handlung nicht zu einer so empörenden Ausführlichkeit berech¬
tigen. Es scheint, als ob alle Irrenhäuser, alle Lazarethe, alle Cloaken ihre
wüsten Bewohner ausgespien haben, um sie hier in einem engen Raume zusam¬
menzudrängen. Die ekelhaften Scenen, die sich hart aneinander drängen, sind
viel ärger, als die Mysterien von Engen Sue, und sie beleidigen um so mehr,
weil sie mit einem so unnennbaren Talent ausgeführt sind. Wie ist es möglich,
daß ein Dichter wie Dickens eine solche Scene beschreibt, wie den Selbstver-
brennungsprvceß des versoffenen Trödlers, oder die Scenen zwischen dem wür¬
digen Ehepaar Smallweed.

Jene Scenen sind von einer gräßlichen realistischen Wahrheit, aber wie un¬
würdig ist es eines Künstlers, die gemeinen physische» Zuckungen des Fleisches
mit jener Wollust nachzuempfinden, wie es hier Dickens gethan. Es gibt in der
Geschichte der Medicin noch viel scheußlichere Krankheiten als er beschreibt,
und er hat in der That soviel Gewalt über unsre Einbildungskraft, daß uns bei
seinen Schilderungen übel werden muß, daß wir, was er uns darstellt, nicht
blos sehen und hören, sondern auch riechen und schmecken^ aber Gott verhüte es,
daß sich diese Manie, die gemeine Physik zum Gegenstand der Poesie zu mache»,
auch der besseren Dichter bemächtige! Die Darstellung des physischen Leidens ist
in der Dichtung nur soweit berechtigt, als zur Darstellung deö moralischen und
psychologische» Inhalts nothwendig ist; jeder Schritt über diese Grenze hinaus
ist eine Sünde am heiligen Geist.,

Möchte der Dichter, dessen Begabung wir so hoch verehren, dessen frohes
gläubiges Gemüth uns so manche schöne Stunde bereitet hat, recht bald durch
ein neues Werk den schlimmen Eindruck wieder auslöschen, den diese arge Ver-
irrung seiner Phantasie auf uns gemacht hat.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97245/194>, abgerufen am 22.07.2024.