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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band.

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Romans eine Satire gegen irgend eine bestimmte Schlechtigkeit der Gesellschaft
beabsichtigt, mit der größten Leidenschaft und dem tugendhaftesten Zorn darauf
losgeht, daß aber dann die Phantasie und das eigentlich poetische Moment über
ihn Herr wird und daß jene Satire sich im Sande verläuft. So ist es mit
dem Waisenhaus in "Oliver Toise", mit der Schule in "Nickelby", so im
ganzen auch in den " Pickwickievn " und im "Chuzzlewit"; dieser Fehler der
Composttion würde also nicht soviel austragen. .Betrachten wir nun die beiden
Gruppen im einzelnen.

Die Gruppe des Processes ist offenbar die schwächere. Es werden uns
zwar im Anfange eine große Menge von Figuren vorgeführt, welche durch jenen
Proceß unglücklich, wahnsinnig und schlecht geworden sind und als erster Angriff
auf unser Gemüth ist das auch ganz in der Ordnung, f Die Hauptsache aber
war, an einem lebendigen Beispiel jene Einwirkung genetisch zu verfolgen. Dickens
hat das an dem jungen Carstone versucht, aber es ist ihm nicht gelungen,
weil er diese Scenen zu flüchtig bearbeitet hat. Es ist zwar eine Reihe von
' Momenten aus seinem Leben dargestellt, die uns eine gewisse Sncccssivität in
seiner Verirrung versinnlichen, aber diese Momente sind M skizzenhaft gehalten.
Wir leben uns zu wenig in das Innere des jungen Mannes hinein, um uns
für ihn zu interessiren, um ihn auch nur zu verstehen/ Dickens versteht es sehr
Wohl, das Dämonische einer einseitigen Leidenschaft zu entwickeln. Wenn er eS
hier weniger gethan hat, so liegt der Grund nur darin, daß ihn die andere Gruppe
seines Romans zu sehr interessirte. Und so machen diese Scenen den Eindruck,
als ob sie nnr ein Nothbehelf wären, um doch den Faden nicht ganz fallen
zu lassen.

Desto größeres Lob verdient die zweite Gruppe. Wie das finstere Unwetter
sich allmälig über dem Haupt der Lady zusammenzieht, wie man dann den
Donner immer näher rollen Hort, bis endlich der erschütternde Schlag das ganze
Gebäude ihres stolzen Glücks zertrümmert, wie der Polizeispion, der nun die
Hauptrolle wird, sämmtliche Fäden des verwickelten Gespinnstes in seiner Hand
vereinigt und das Verborgene enthüllt, namentlich aber die Verfolgung ist mit
einer Meisterschaft aufgeführt, in der Dickens nicht seines Gleichen hat. Das
ist eine von jenen Scenen wild romantischer Poesie, in die wir uns mit einer
gewissen Lust verlieren, auch wenn wir darüber Schauern.

Aber dieses Lob trifft nur die äußere Komposition. Was doch die Haupt¬
sache wäre, die innere Wahrheit, ist verfehlt, verfehlter als in irgend einer andern
von Dickens Erfindungen.

Die Gruppe des Baronet, seiner Gemahlin und des Advocaten erinnert
unwillkürlich an die entsprechende in Dombey. Anlage, Ausgang und Charakter-
, entwickelung laufen ganz parallel. Schon das Verhältniß zwischen jenen drei
Personen war ein höchst gezwungenes und reflectirtes, wenigstens hat es der Dichter


Romans eine Satire gegen irgend eine bestimmte Schlechtigkeit der Gesellschaft
beabsichtigt, mit der größten Leidenschaft und dem tugendhaftesten Zorn darauf
losgeht, daß aber dann die Phantasie und das eigentlich poetische Moment über
ihn Herr wird und daß jene Satire sich im Sande verläuft. So ist es mit
dem Waisenhaus in „Oliver Toise", mit der Schule in „Nickelby", so im
ganzen auch in den „ Pickwickievn " und im „Chuzzlewit"; dieser Fehler der
Composttion würde also nicht soviel austragen. .Betrachten wir nun die beiden
Gruppen im einzelnen.

Die Gruppe des Processes ist offenbar die schwächere. Es werden uns
zwar im Anfange eine große Menge von Figuren vorgeführt, welche durch jenen
Proceß unglücklich, wahnsinnig und schlecht geworden sind und als erster Angriff
auf unser Gemüth ist das auch ganz in der Ordnung, f Die Hauptsache aber
war, an einem lebendigen Beispiel jene Einwirkung genetisch zu verfolgen. Dickens
hat das an dem jungen Carstone versucht, aber es ist ihm nicht gelungen,
weil er diese Scenen zu flüchtig bearbeitet hat. Es ist zwar eine Reihe von
' Momenten aus seinem Leben dargestellt, die uns eine gewisse Sncccssivität in
seiner Verirrung versinnlichen, aber diese Momente sind M skizzenhaft gehalten.
Wir leben uns zu wenig in das Innere des jungen Mannes hinein, um uns
für ihn zu interessiren, um ihn auch nur zu verstehen/ Dickens versteht es sehr
Wohl, das Dämonische einer einseitigen Leidenschaft zu entwickeln. Wenn er eS
hier weniger gethan hat, so liegt der Grund nur darin, daß ihn die andere Gruppe
seines Romans zu sehr interessirte. Und so machen diese Scenen den Eindruck,
als ob sie nnr ein Nothbehelf wären, um doch den Faden nicht ganz fallen
zu lassen.

Desto größeres Lob verdient die zweite Gruppe. Wie das finstere Unwetter
sich allmälig über dem Haupt der Lady zusammenzieht, wie man dann den
Donner immer näher rollen Hort, bis endlich der erschütternde Schlag das ganze
Gebäude ihres stolzen Glücks zertrümmert, wie der Polizeispion, der nun die
Hauptrolle wird, sämmtliche Fäden des verwickelten Gespinnstes in seiner Hand
vereinigt und das Verborgene enthüllt, namentlich aber die Verfolgung ist mit
einer Meisterschaft aufgeführt, in der Dickens nicht seines Gleichen hat. Das
ist eine von jenen Scenen wild romantischer Poesie, in die wir uns mit einer
gewissen Lust verlieren, auch wenn wir darüber Schauern.

Aber dieses Lob trifft nur die äußere Komposition. Was doch die Haupt¬
sache wäre, die innere Wahrheit, ist verfehlt, verfehlter als in irgend einer andern
von Dickens Erfindungen.

Die Gruppe des Baronet, seiner Gemahlin und des Advocaten erinnert
unwillkürlich an die entsprechende in Dombey. Anlage, Ausgang und Charakter-
, entwickelung laufen ganz parallel. Schon das Verhältniß zwischen jenen drei
Personen war ein höchst gezwungenes und reflectirtes, wenigstens hat es der Dichter


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[0190] Romans eine Satire gegen irgend eine bestimmte Schlechtigkeit der Gesellschaft beabsichtigt, mit der größten Leidenschaft und dem tugendhaftesten Zorn darauf losgeht, daß aber dann die Phantasie und das eigentlich poetische Moment über ihn Herr wird und daß jene Satire sich im Sande verläuft. So ist es mit dem Waisenhaus in „Oliver Toise", mit der Schule in „Nickelby", so im ganzen auch in den „ Pickwickievn " und im „Chuzzlewit"; dieser Fehler der Composttion würde also nicht soviel austragen. .Betrachten wir nun die beiden Gruppen im einzelnen. Die Gruppe des Processes ist offenbar die schwächere. Es werden uns zwar im Anfange eine große Menge von Figuren vorgeführt, welche durch jenen Proceß unglücklich, wahnsinnig und schlecht geworden sind und als erster Angriff auf unser Gemüth ist das auch ganz in der Ordnung, f Die Hauptsache aber war, an einem lebendigen Beispiel jene Einwirkung genetisch zu verfolgen. Dickens hat das an dem jungen Carstone versucht, aber es ist ihm nicht gelungen, weil er diese Scenen zu flüchtig bearbeitet hat. Es ist zwar eine Reihe von ' Momenten aus seinem Leben dargestellt, die uns eine gewisse Sncccssivität in seiner Verirrung versinnlichen, aber diese Momente sind M skizzenhaft gehalten. Wir leben uns zu wenig in das Innere des jungen Mannes hinein, um uns für ihn zu interessiren, um ihn auch nur zu verstehen/ Dickens versteht es sehr Wohl, das Dämonische einer einseitigen Leidenschaft zu entwickeln. Wenn er eS hier weniger gethan hat, so liegt der Grund nur darin, daß ihn die andere Gruppe seines Romans zu sehr interessirte. Und so machen diese Scenen den Eindruck, als ob sie nnr ein Nothbehelf wären, um doch den Faden nicht ganz fallen zu lassen. Desto größeres Lob verdient die zweite Gruppe. Wie das finstere Unwetter sich allmälig über dem Haupt der Lady zusammenzieht, wie man dann den Donner immer näher rollen Hort, bis endlich der erschütternde Schlag das ganze Gebäude ihres stolzen Glücks zertrümmert, wie der Polizeispion, der nun die Hauptrolle wird, sämmtliche Fäden des verwickelten Gespinnstes in seiner Hand vereinigt und das Verborgene enthüllt, namentlich aber die Verfolgung ist mit einer Meisterschaft aufgeführt, in der Dickens nicht seines Gleichen hat. Das ist eine von jenen Scenen wild romantischer Poesie, in die wir uns mit einer gewissen Lust verlieren, auch wenn wir darüber Schauern. Aber dieses Lob trifft nur die äußere Komposition. Was doch die Haupt¬ sache wäre, die innere Wahrheit, ist verfehlt, verfehlter als in irgend einer andern von Dickens Erfindungen. Die Gruppe des Baronet, seiner Gemahlin und des Advocaten erinnert unwillkürlich an die entsprechende in Dombey. Anlage, Ausgang und Charakter- , entwickelung laufen ganz parallel. Schon das Verhältniß zwischen jenen drei Personen war ein höchst gezwungenes und reflectirtes, wenigstens hat es der Dichter

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97245/190>, abgerufen am 22.07.2024.