Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

haben es mit einem fremden Stoff und mit einem ungläubigen Publicum zu
thun; wenn sie es fesseln wollen, so kann ihnen das nur uach den Gesetzen der
Kunst gelingen.

Es ist eigentlich ganz unnöthig, auf den Irrthum hinzuweisen, der darin
liegt, die rhapsodische Form, die uns in den alten Gesängen interessirt, auf die neuen
anzuwenden. Wir lesen z. B. die Ballade vom Cid mit großem Vergnügen, weil
wir ein literarhistorisches Interesse mitbringen und uns das spanische Ritterthum
als die einheitliche Basis dazu denken. Unter den neuern Dichtern hat z. B.
Byron mehrfach den Fehler begangen, seine Gedichte zu zerstückeln, und jeder
unbefangene Leser empfindet dies als einen Fehler; aber hier tritt die über¬
wältigende Kraft des Genius ein. Z. B. "der Giaur" ist als Ganzes
betrachtet, höchst dürftig, aber fast alles Einzelne ist so hoch poetisch, daß wir
diesen Fehler wenigstens für den Augenblick vergessen" Wenn einer unserer
modernen Rhapsoden eine Strophe geschrieben haben wird, wie jene: 1w vdo las
denk Kien o'ol- ete Äeaä u. s. w., so wird man ihm auch einige Nachlässigkeit in
der Form verzeihen, aber man zeige uns in der ganzen deutschen Poesie seit
Heine nur eine Zeile der Art. Der einzige Dichter, der allenfalls eine Ausnahme
machen könnte, ist Lenau: er kommt in einzelnen Stellen, z. B. in der Beichte
des Papstes, Byron wenigstens nahe, aber das andere ist matt und gleichgiltig,
und so werden wir durch die rhapsodische Form in den Albigensern, im Savona-
rola, im Don Juan abgespannt und ermüdet, um wie vielmehr erst bei
den spätern Dichter". Uebrigens vergleiche man z. B. "das Fräulein vom See"
von Walter Scott, das an glänzenden Einzelnheiten nicht im entferntesten mit
Byron wetteifern kann, mit einem beliebigen Gedicht des letzteren, und wir sind
überzeugt, daß jeder gebildete Leser in jeder Stimmung aus dem ersteren eine
größere Befriedigung schöpfen wird, blos wegen der reinen künstlerischen Com-
position.

Die Grenzscheide des romantischen Gedichts gegen das Drama wie gegen
den Roman laßt sich sehr einfach ziehen, wenn man nnr unbefangen die Natur
dieser Dichtungsarten ins Auge saßt. Das Drama soll uns eine Handlung
gegenwärtig machen und uns die handelnden Personen wirklich vor Augen führen,
das Epos dagegen stellt sie uns als Vergangenheit dar. Der Roman gibt sich
durch seine Form als Nachahmung der Wirklichkeit zu erkennen, das Epos ver¬
setzt uns durch den Rhythmus in eine freie, ideale, wenn man will, romantische
Welt, es Meßt also das Alltägliche und die gemeine Naturnachahmung ans.
Ans diesem einfachen, in der Natur der Sache liegenden Unterschiede lassen sich
alle übrigen herleiten, die Unterschiede in der Charakteristik, in den Motiven, in
der Gruppirung, in der Composttion und Farbe. Zunächst tritt der Gegensatz
hervor, daß das Epos ein genaues Eingehen auf das Aeußere, auf Schilderungen
u. tgi. nicht blos erlaubt, sondern gebietet, während das Drama es ausschließt;


2"

haben es mit einem fremden Stoff und mit einem ungläubigen Publicum zu
thun; wenn sie es fesseln wollen, so kann ihnen das nur uach den Gesetzen der
Kunst gelingen.

Es ist eigentlich ganz unnöthig, auf den Irrthum hinzuweisen, der darin
liegt, die rhapsodische Form, die uns in den alten Gesängen interessirt, auf die neuen
anzuwenden. Wir lesen z. B. die Ballade vom Cid mit großem Vergnügen, weil
wir ein literarhistorisches Interesse mitbringen und uns das spanische Ritterthum
als die einheitliche Basis dazu denken. Unter den neuern Dichtern hat z. B.
Byron mehrfach den Fehler begangen, seine Gedichte zu zerstückeln, und jeder
unbefangene Leser empfindet dies als einen Fehler; aber hier tritt die über¬
wältigende Kraft des Genius ein. Z. B. „der Giaur" ist als Ganzes
betrachtet, höchst dürftig, aber fast alles Einzelne ist so hoch poetisch, daß wir
diesen Fehler wenigstens für den Augenblick vergessen» Wenn einer unserer
modernen Rhapsoden eine Strophe geschrieben haben wird, wie jene: 1w vdo las
denk Kien o'ol- ete Äeaä u. s. w., so wird man ihm auch einige Nachlässigkeit in
der Form verzeihen, aber man zeige uns in der ganzen deutschen Poesie seit
Heine nur eine Zeile der Art. Der einzige Dichter, der allenfalls eine Ausnahme
machen könnte, ist Lenau: er kommt in einzelnen Stellen, z. B. in der Beichte
des Papstes, Byron wenigstens nahe, aber das andere ist matt und gleichgiltig,
und so werden wir durch die rhapsodische Form in den Albigensern, im Savona-
rola, im Don Juan abgespannt und ermüdet, um wie vielmehr erst bei
den spätern Dichter». Uebrigens vergleiche man z. B. „das Fräulein vom See"
von Walter Scott, das an glänzenden Einzelnheiten nicht im entferntesten mit
Byron wetteifern kann, mit einem beliebigen Gedicht des letzteren, und wir sind
überzeugt, daß jeder gebildete Leser in jeder Stimmung aus dem ersteren eine
größere Befriedigung schöpfen wird, blos wegen der reinen künstlerischen Com-
position.

Die Grenzscheide des romantischen Gedichts gegen das Drama wie gegen
den Roman laßt sich sehr einfach ziehen, wenn man nnr unbefangen die Natur
dieser Dichtungsarten ins Auge saßt. Das Drama soll uns eine Handlung
gegenwärtig machen und uns die handelnden Personen wirklich vor Augen führen,
das Epos dagegen stellt sie uns als Vergangenheit dar. Der Roman gibt sich
durch seine Form als Nachahmung der Wirklichkeit zu erkennen, das Epos ver¬
setzt uns durch den Rhythmus in eine freie, ideale, wenn man will, romantische
Welt, es Meßt also das Alltägliche und die gemeine Naturnachahmung ans.
Ans diesem einfachen, in der Natur der Sache liegenden Unterschiede lassen sich
alle übrigen herleiten, die Unterschiede in der Charakteristik, in den Motiven, in
der Gruppirung, in der Composttion und Farbe. Zunächst tritt der Gegensatz
hervor, daß das Epos ein genaues Eingehen auf das Aeußere, auf Schilderungen
u. tgi. nicht blos erlaubt, sondern gebietet, während das Drama es ausschließt;


2"
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0019" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/97265"/>
          <p xml:id="ID_28" prev="#ID_27"> haben es mit einem fremden Stoff und mit einem ungläubigen Publicum zu<lb/>
thun; wenn sie es fesseln wollen, so kann ihnen das nur uach den Gesetzen der<lb/>
Kunst gelingen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_29"> Es ist eigentlich ganz unnöthig, auf den Irrthum hinzuweisen, der darin<lb/>
liegt, die rhapsodische Form, die uns in den alten Gesängen interessirt, auf die neuen<lb/>
anzuwenden. Wir lesen z. B. die Ballade vom Cid mit großem Vergnügen, weil<lb/>
wir ein literarhistorisches Interesse mitbringen und uns das spanische Ritterthum<lb/>
als die einheitliche Basis dazu denken. Unter den neuern Dichtern hat z. B.<lb/>
Byron mehrfach den Fehler begangen, seine Gedichte zu zerstückeln, und jeder<lb/>
unbefangene Leser empfindet dies als einen Fehler; aber hier tritt die über¬<lb/>
wältigende Kraft des Genius ein. Z. B. &#x201E;der Giaur" ist als Ganzes<lb/>
betrachtet, höchst dürftig, aber fast alles Einzelne ist so hoch poetisch, daß wir<lb/>
diesen Fehler wenigstens für den Augenblick vergessen» Wenn einer unserer<lb/>
modernen Rhapsoden eine Strophe geschrieben haben wird, wie jene: 1w vdo las<lb/>
denk Kien o'ol- ete Äeaä u. s. w., so wird man ihm auch einige Nachlässigkeit in<lb/>
der Form verzeihen, aber man zeige uns in der ganzen deutschen Poesie seit<lb/>
Heine nur eine Zeile der Art. Der einzige Dichter, der allenfalls eine Ausnahme<lb/>
machen könnte, ist Lenau: er kommt in einzelnen Stellen, z. B. in der Beichte<lb/>
des Papstes, Byron wenigstens nahe, aber das andere ist matt und gleichgiltig,<lb/>
und so werden wir durch die rhapsodische Form in den Albigensern, im Savona-<lb/>
rola, im Don Juan abgespannt und ermüdet, um wie vielmehr erst bei<lb/>
den spätern Dichter». Uebrigens vergleiche man z. B. &#x201E;das Fräulein vom See"<lb/>
von Walter Scott, das an glänzenden Einzelnheiten nicht im entferntesten mit<lb/>
Byron wetteifern kann, mit einem beliebigen Gedicht des letzteren, und wir sind<lb/>
überzeugt, daß jeder gebildete Leser in jeder Stimmung aus dem ersteren eine<lb/>
größere Befriedigung schöpfen wird, blos wegen der reinen künstlerischen Com-<lb/>
position.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_30" next="#ID_31"> Die Grenzscheide des romantischen Gedichts gegen das Drama wie gegen<lb/>
den Roman laßt sich sehr einfach ziehen, wenn man nnr unbefangen die Natur<lb/>
dieser Dichtungsarten ins Auge saßt. Das Drama soll uns eine Handlung<lb/>
gegenwärtig machen und uns die handelnden Personen wirklich vor Augen führen,<lb/>
das Epos dagegen stellt sie uns als Vergangenheit dar. Der Roman gibt sich<lb/>
durch seine Form als Nachahmung der Wirklichkeit zu erkennen, das Epos ver¬<lb/>
setzt uns durch den Rhythmus in eine freie, ideale, wenn man will, romantische<lb/>
Welt, es Meßt also das Alltägliche und die gemeine Naturnachahmung ans.<lb/>
Ans diesem einfachen, in der Natur der Sache liegenden Unterschiede lassen sich<lb/>
alle übrigen herleiten, die Unterschiede in der Charakteristik, in den Motiven, in<lb/>
der Gruppirung, in der Composttion und Farbe. Zunächst tritt der Gegensatz<lb/>
hervor, daß das Epos ein genaues Eingehen auf das Aeußere, auf Schilderungen<lb/>
u. tgi. nicht blos erlaubt, sondern gebietet, während das Drama es ausschließt;</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> 2"</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0019] haben es mit einem fremden Stoff und mit einem ungläubigen Publicum zu thun; wenn sie es fesseln wollen, so kann ihnen das nur uach den Gesetzen der Kunst gelingen. Es ist eigentlich ganz unnöthig, auf den Irrthum hinzuweisen, der darin liegt, die rhapsodische Form, die uns in den alten Gesängen interessirt, auf die neuen anzuwenden. Wir lesen z. B. die Ballade vom Cid mit großem Vergnügen, weil wir ein literarhistorisches Interesse mitbringen und uns das spanische Ritterthum als die einheitliche Basis dazu denken. Unter den neuern Dichtern hat z. B. Byron mehrfach den Fehler begangen, seine Gedichte zu zerstückeln, und jeder unbefangene Leser empfindet dies als einen Fehler; aber hier tritt die über¬ wältigende Kraft des Genius ein. Z. B. „der Giaur" ist als Ganzes betrachtet, höchst dürftig, aber fast alles Einzelne ist so hoch poetisch, daß wir diesen Fehler wenigstens für den Augenblick vergessen» Wenn einer unserer modernen Rhapsoden eine Strophe geschrieben haben wird, wie jene: 1w vdo las denk Kien o'ol- ete Äeaä u. s. w., so wird man ihm auch einige Nachlässigkeit in der Form verzeihen, aber man zeige uns in der ganzen deutschen Poesie seit Heine nur eine Zeile der Art. Der einzige Dichter, der allenfalls eine Ausnahme machen könnte, ist Lenau: er kommt in einzelnen Stellen, z. B. in der Beichte des Papstes, Byron wenigstens nahe, aber das andere ist matt und gleichgiltig, und so werden wir durch die rhapsodische Form in den Albigensern, im Savona- rola, im Don Juan abgespannt und ermüdet, um wie vielmehr erst bei den spätern Dichter». Uebrigens vergleiche man z. B. „das Fräulein vom See" von Walter Scott, das an glänzenden Einzelnheiten nicht im entferntesten mit Byron wetteifern kann, mit einem beliebigen Gedicht des letzteren, und wir sind überzeugt, daß jeder gebildete Leser in jeder Stimmung aus dem ersteren eine größere Befriedigung schöpfen wird, blos wegen der reinen künstlerischen Com- position. Die Grenzscheide des romantischen Gedichts gegen das Drama wie gegen den Roman laßt sich sehr einfach ziehen, wenn man nnr unbefangen die Natur dieser Dichtungsarten ins Auge saßt. Das Drama soll uns eine Handlung gegenwärtig machen und uns die handelnden Personen wirklich vor Augen führen, das Epos dagegen stellt sie uns als Vergangenheit dar. Der Roman gibt sich durch seine Form als Nachahmung der Wirklichkeit zu erkennen, das Epos ver¬ setzt uns durch den Rhythmus in eine freie, ideale, wenn man will, romantische Welt, es Meßt also das Alltägliche und die gemeine Naturnachahmung ans. Ans diesem einfachen, in der Natur der Sache liegenden Unterschiede lassen sich alle übrigen herleiten, die Unterschiede in der Charakteristik, in den Motiven, in der Gruppirung, in der Composttion und Farbe. Zunächst tritt der Gegensatz hervor, daß das Epos ein genaues Eingehen auf das Aeußere, auf Schilderungen u. tgi. nicht blos erlaubt, sondern gebietet, während das Drama es ausschließt; 2"

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97245
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97245/19
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97245/19>, abgerufen am 05.02.2025.