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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band.

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keuntniß, die Entstehung der Staaten und des Staatensystems auf den Handel
und Weltverkehr eingewirkt haben. Im zweiten Bande, wo das Material über¬
haupt viel reichlicher vorhanden ist, als für die alte Geschichte, die den Inhalt
des ersten Bandes ausmacht, haben wir auch eine größere Fülle und Mannig¬
faltigkeit der Thatsachen, und wenn wir auch ein kritisches Eingehen auf die
tiefere Begründung der Handelsverhältnisse aus den jedesmaligen ökonomischen
Zuständen der Länder und ihren Einrichtungen ungern vermissen, so müssen wir
doch dem Verfasser zugestehen, daß er nicht mehr versprochen hat, als er hält.
Das Buch ist' nicht auf eine Erweiterung der Ideen, sondern auf allgemeinere
Verbreitung der bisher auf einen zu engen Kreis beschränkten Kenntnisse gerichtet,
und in dieser Beziehung ist es ein durchaus verdienstvolles Unternehmen.




Bleakhons von Dickens,
übersetzt von Jul. Seybt. Leipzig, Lorck. --

Wenn wir nach Vollendung dieses Romans eine Weile gezögert haben, un¬
ser Urtheil auszusprechen, so lag der Grund darin, daß ein solches Urtheil uns
sehr schwer fiel. Die Poesie der gegenwärtigen Zrit bietet nicht viel lichte Mo¬
mente und wir kannten keinen Dichter, an dessen Leistungen wir uns von dem
mannigfachen Mißbehagen so erholen konnten, der uns durch seine ideale Welt
so mächtig über die Befangenheiten der schlechten Empirie unserer gewöhnlichen
Romane erhob, als Dickens. Es mußte uns daher sehr schwer fallen, über den
neuesten Versuch dieses unseres Lieblings eine absolute Verwerfung auszusprechen,
um so schwerer, da es sich hier nicht um eine vorübergehende Ermattung des Ta¬
lents oder um einen vereinzelten zufälligen Irrweg handelt, dem zuweilen auch die
besten Kräfte verfallen. 'Das Talent, welches sich in diesem Romane entfaltet,
ist vielmehr ebenso groß, als in irgend einem der früheren, und die Verirrung
liegt keineswegs außerhalb des Enwickelungsganges unseres Dichters, sie ist viel¬
mehr in den früheren Versuchen schon angedeutet, und wir müssen befürchten,
daß sie bereits den Kern seines Schaffens angegriffen hat.

Was Dickens über alle Dichter der Gegenwart erhebt, ist die unendliche
Macht seiner Phantasie, die gegenständliche Welt bis in ihren innersten Kern zu
empfinden und sie in gewaltiger Gegenwart wiederzugeben., Es sieht zuweilen
sy aus, als ob er noch andere Organe des Empfäugnisses habe, als andere Men¬
schen. Jedes einzelne Ereigniß dringt mit einer Vielseitigkeit in sein Nerven¬
system, die so wunderbar ist, daß man ohne viel Uebertreibung behaupten kann, er
höre das Gras wachsen. Sonst wendet der Dichter wie jeder andere Beobachter


keuntniß, die Entstehung der Staaten und des Staatensystems auf den Handel
und Weltverkehr eingewirkt haben. Im zweiten Bande, wo das Material über¬
haupt viel reichlicher vorhanden ist, als für die alte Geschichte, die den Inhalt
des ersten Bandes ausmacht, haben wir auch eine größere Fülle und Mannig¬
faltigkeit der Thatsachen, und wenn wir auch ein kritisches Eingehen auf die
tiefere Begründung der Handelsverhältnisse aus den jedesmaligen ökonomischen
Zuständen der Länder und ihren Einrichtungen ungern vermissen, so müssen wir
doch dem Verfasser zugestehen, daß er nicht mehr versprochen hat, als er hält.
Das Buch ist' nicht auf eine Erweiterung der Ideen, sondern auf allgemeinere
Verbreitung der bisher auf einen zu engen Kreis beschränkten Kenntnisse gerichtet,
und in dieser Beziehung ist es ein durchaus verdienstvolles Unternehmen.




Bleakhons von Dickens,
übersetzt von Jul. Seybt. Leipzig, Lorck. —

Wenn wir nach Vollendung dieses Romans eine Weile gezögert haben, un¬
ser Urtheil auszusprechen, so lag der Grund darin, daß ein solches Urtheil uns
sehr schwer fiel. Die Poesie der gegenwärtigen Zrit bietet nicht viel lichte Mo¬
mente und wir kannten keinen Dichter, an dessen Leistungen wir uns von dem
mannigfachen Mißbehagen so erholen konnten, der uns durch seine ideale Welt
so mächtig über die Befangenheiten der schlechten Empirie unserer gewöhnlichen
Romane erhob, als Dickens. Es mußte uns daher sehr schwer fallen, über den
neuesten Versuch dieses unseres Lieblings eine absolute Verwerfung auszusprechen,
um so schwerer, da es sich hier nicht um eine vorübergehende Ermattung des Ta¬
lents oder um einen vereinzelten zufälligen Irrweg handelt, dem zuweilen auch die
besten Kräfte verfallen. 'Das Talent, welches sich in diesem Romane entfaltet,
ist vielmehr ebenso groß, als in irgend einem der früheren, und die Verirrung
liegt keineswegs außerhalb des Enwickelungsganges unseres Dichters, sie ist viel¬
mehr in den früheren Versuchen schon angedeutet, und wir müssen befürchten,
daß sie bereits den Kern seines Schaffens angegriffen hat.

Was Dickens über alle Dichter der Gegenwart erhebt, ist die unendliche
Macht seiner Phantasie, die gegenständliche Welt bis in ihren innersten Kern zu
empfinden und sie in gewaltiger Gegenwart wiederzugeben., Es sieht zuweilen
sy aus, als ob er noch andere Organe des Empfäugnisses habe, als andere Men¬
schen. Jedes einzelne Ereigniß dringt mit einer Vielseitigkeit in sein Nerven¬
system, die so wunderbar ist, daß man ohne viel Uebertreibung behaupten kann, er
höre das Gras wachsen. Sonst wendet der Dichter wie jeder andere Beobachter


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[0186] keuntniß, die Entstehung der Staaten und des Staatensystems auf den Handel und Weltverkehr eingewirkt haben. Im zweiten Bande, wo das Material über¬ haupt viel reichlicher vorhanden ist, als für die alte Geschichte, die den Inhalt des ersten Bandes ausmacht, haben wir auch eine größere Fülle und Mannig¬ faltigkeit der Thatsachen, und wenn wir auch ein kritisches Eingehen auf die tiefere Begründung der Handelsverhältnisse aus den jedesmaligen ökonomischen Zuständen der Länder und ihren Einrichtungen ungern vermissen, so müssen wir doch dem Verfasser zugestehen, daß er nicht mehr versprochen hat, als er hält. Das Buch ist' nicht auf eine Erweiterung der Ideen, sondern auf allgemeinere Verbreitung der bisher auf einen zu engen Kreis beschränkten Kenntnisse gerichtet, und in dieser Beziehung ist es ein durchaus verdienstvolles Unternehmen. Bleakhons von Dickens, übersetzt von Jul. Seybt. Leipzig, Lorck. — Wenn wir nach Vollendung dieses Romans eine Weile gezögert haben, un¬ ser Urtheil auszusprechen, so lag der Grund darin, daß ein solches Urtheil uns sehr schwer fiel. Die Poesie der gegenwärtigen Zrit bietet nicht viel lichte Mo¬ mente und wir kannten keinen Dichter, an dessen Leistungen wir uns von dem mannigfachen Mißbehagen so erholen konnten, der uns durch seine ideale Welt so mächtig über die Befangenheiten der schlechten Empirie unserer gewöhnlichen Romane erhob, als Dickens. Es mußte uns daher sehr schwer fallen, über den neuesten Versuch dieses unseres Lieblings eine absolute Verwerfung auszusprechen, um so schwerer, da es sich hier nicht um eine vorübergehende Ermattung des Ta¬ lents oder um einen vereinzelten zufälligen Irrweg handelt, dem zuweilen auch die besten Kräfte verfallen. 'Das Talent, welches sich in diesem Romane entfaltet, ist vielmehr ebenso groß, als in irgend einem der früheren, und die Verirrung liegt keineswegs außerhalb des Enwickelungsganges unseres Dichters, sie ist viel¬ mehr in den früheren Versuchen schon angedeutet, und wir müssen befürchten, daß sie bereits den Kern seines Schaffens angegriffen hat. Was Dickens über alle Dichter der Gegenwart erhebt, ist die unendliche Macht seiner Phantasie, die gegenständliche Welt bis in ihren innersten Kern zu empfinden und sie in gewaltiger Gegenwart wiederzugeben., Es sieht zuweilen sy aus, als ob er noch andere Organe des Empfäugnisses habe, als andere Men¬ schen. Jedes einzelne Ereigniß dringt mit einer Vielseitigkeit in sein Nerven¬ system, die so wunderbar ist, daß man ohne viel Uebertreibung behaupten kann, er höre das Gras wachsen. Sonst wendet der Dichter wie jeder andere Beobachter

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97245/186>, abgerufen am 05.07.2024.