Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band.er empfindet also jeden Fehler der Komposition als ein Attentat auf seine Geduld Dieser äußere Zwang scheint bei dem erzählenden Gedicht nicht statt¬ Was wir hier gesagt haben, bezieht sich auf die epische Poesie überhaupt, er empfindet also jeden Fehler der Komposition als ein Attentat auf seine Geduld Dieser äußere Zwang scheint bei dem erzählenden Gedicht nicht statt¬ Was wir hier gesagt haben, bezieht sich auf die epische Poesie überhaupt, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0018" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/97264"/> <p xml:id="ID_25" prev="#ID_24"> er empfindet also jeden Fehler der Komposition als ein Attentat auf seine Geduld<lb/> und zwingt den Dichter, gleichfalls bei der Sache zu bleiben. Man darf nicht<lb/> erst den Aristoteles aufschlagen, um sich diese Regel zu abstrahiren, jedes unbe¬<lb/> fangene Publicum leistet dieselben Dienste: wenn es sich langweilt oder wenn es<lb/> in seinen Empfindungen verletzt wird, so zischt es den Dichter aus, und beides<lb/> findet statt, wenn die Begebenheit unklar dargestellt, die Scenerie falsch gruppirt,<lb/> die Motivirung unklar oder verschroben und der Ausging unbefriedigend ist.<lb/> Freilich genügt die Vermeidung aller dieser Fehler noch nicht, ein gutes Drama<lb/> hervorzubringen, dazu gehört vielmehr, daß die Handlung nicht blos verständlich<lb/> und naturgetreu, sondern anch bedeutend ist: und hier reichen die Regeln nicht<lb/> mehr aus, hier hat der Dichter zu zeige», wieweit die Kraft seines Genius geht.</p><lb/> <p xml:id="ID_26"> Dieser äußere Zwang scheint bei dem erzählenden Gedicht nicht statt¬<lb/> zufinden, wir können ihn aber sehr leicht ergänzen. Schon die rhythmische Form<lb/> zeigt, daß hier wie bei aller echten Poesie neben dem geistigen Eindrucke auch<lb/> ein sinnlicher beabsichtigt wird. Dieser kann aber nnr bei der Vorlesung zur<lb/> Geltung kommen: eine sinnliche Realisirung des poetischen Zwecks, die wir we¬<lb/> nigstens in der Idee festhalten müssen, wenn wir sie anch im gewöhnlichen Leben,<lb/> da wir mit den Augen zu hören gelernt haben, durch Abstraction ergänzen.<lb/> Wir werden also dasjenige erzählende Gedicht gut nennen, welches bei einer Vor¬<lb/> lesung von Anfang bis zu Ende durch die einheitliche Verarbeitung und Grup-<lb/> pirung des Stoffs die Zuhörer unterhält und fesselt, und sie durch seinen idealen<lb/> und poetischen Gehalt in eine höhere Region der Empfindung erhebt. Und da<lb/> das Maß der menschlichen Spannung zwar nicht a priori zu bestimmen ist, aber<lb/> doch eine gewisse Grenze hat, so werden wir wol kaum fehlgreifen, wenn wir<lb/> dem erzählenden Gedicht ebenso wie dem Drama den Umfang eines Abends setzen:<lb/> ein elastischer Ausdruck, der aber der Sache entspricht. schwillt der Umfang<lb/> bedeutend an, so bleibt die Aufgabe dieselbe, sie wird nur schwieriger, ganz<lb/> wie bei Schillers Wallenstein. Die Vorlesung muß nämlich ans mehre Abende<lb/> vertheilt werden, und nicht nur für jeden Abend eine anhaltende Spannung<lb/> und einen befriedigenden Abschluß herbeiführen, sondern es müssen anch die ein¬<lb/> zelnen Theile durch eine fortlaufende Spannung miteinander verbunden werden.</p><lb/> <p xml:id="ID_27" next="#ID_28"> Was wir hier gesagt haben, bezieht sich auf die epische Poesie überhaupt,<lb/> sie gilt aber in viel höherem Grade für das Kunstepvs unserer Zeit. Die eigentlich<lb/> epische Dichtung ist aus dem Volke hervorgegangen, aus Traditionell, Sage»,<lb/> einzelnen Rhapsodien und Balladen. Die Gruppirung und Verarbeitung ist ein<lb/> organischer Proceß gewesen, der sich erst allmälig entwickelt hat. Die epischen<lb/> Sänger der Juder, Perser, Griechen, der Germanen, der Scandinavier, der<lb/> Italiener u. s. w. gaben dem Volke seinen eigenen Gehalt wieder, sie durften<lb/> sich also seine Aufmerksamkeit nicht erst erkämpfen, es kam nur darauf an, für<lb/> den nationalen Stoss die'zweckmäßige Form zu finden. Unsere Dichter dagegen</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0018]
er empfindet also jeden Fehler der Komposition als ein Attentat auf seine Geduld
und zwingt den Dichter, gleichfalls bei der Sache zu bleiben. Man darf nicht
erst den Aristoteles aufschlagen, um sich diese Regel zu abstrahiren, jedes unbe¬
fangene Publicum leistet dieselben Dienste: wenn es sich langweilt oder wenn es
in seinen Empfindungen verletzt wird, so zischt es den Dichter aus, und beides
findet statt, wenn die Begebenheit unklar dargestellt, die Scenerie falsch gruppirt,
die Motivirung unklar oder verschroben und der Ausging unbefriedigend ist.
Freilich genügt die Vermeidung aller dieser Fehler noch nicht, ein gutes Drama
hervorzubringen, dazu gehört vielmehr, daß die Handlung nicht blos verständlich
und naturgetreu, sondern anch bedeutend ist: und hier reichen die Regeln nicht
mehr aus, hier hat der Dichter zu zeige», wieweit die Kraft seines Genius geht.
Dieser äußere Zwang scheint bei dem erzählenden Gedicht nicht statt¬
zufinden, wir können ihn aber sehr leicht ergänzen. Schon die rhythmische Form
zeigt, daß hier wie bei aller echten Poesie neben dem geistigen Eindrucke auch
ein sinnlicher beabsichtigt wird. Dieser kann aber nnr bei der Vorlesung zur
Geltung kommen: eine sinnliche Realisirung des poetischen Zwecks, die wir we¬
nigstens in der Idee festhalten müssen, wenn wir sie anch im gewöhnlichen Leben,
da wir mit den Augen zu hören gelernt haben, durch Abstraction ergänzen.
Wir werden also dasjenige erzählende Gedicht gut nennen, welches bei einer Vor¬
lesung von Anfang bis zu Ende durch die einheitliche Verarbeitung und Grup-
pirung des Stoffs die Zuhörer unterhält und fesselt, und sie durch seinen idealen
und poetischen Gehalt in eine höhere Region der Empfindung erhebt. Und da
das Maß der menschlichen Spannung zwar nicht a priori zu bestimmen ist, aber
doch eine gewisse Grenze hat, so werden wir wol kaum fehlgreifen, wenn wir
dem erzählenden Gedicht ebenso wie dem Drama den Umfang eines Abends setzen:
ein elastischer Ausdruck, der aber der Sache entspricht. schwillt der Umfang
bedeutend an, so bleibt die Aufgabe dieselbe, sie wird nur schwieriger, ganz
wie bei Schillers Wallenstein. Die Vorlesung muß nämlich ans mehre Abende
vertheilt werden, und nicht nur für jeden Abend eine anhaltende Spannung
und einen befriedigenden Abschluß herbeiführen, sondern es müssen anch die ein¬
zelnen Theile durch eine fortlaufende Spannung miteinander verbunden werden.
Was wir hier gesagt haben, bezieht sich auf die epische Poesie überhaupt,
sie gilt aber in viel höherem Grade für das Kunstepvs unserer Zeit. Die eigentlich
epische Dichtung ist aus dem Volke hervorgegangen, aus Traditionell, Sage»,
einzelnen Rhapsodien und Balladen. Die Gruppirung und Verarbeitung ist ein
organischer Proceß gewesen, der sich erst allmälig entwickelt hat. Die epischen
Sänger der Juder, Perser, Griechen, der Germanen, der Scandinavier, der
Italiener u. s. w. gaben dem Volke seinen eigenen Gehalt wieder, sie durften
sich also seine Aufmerksamkeit nicht erst erkämpfen, es kam nur darauf an, für
den nationalen Stoss die'zweckmäßige Form zu finden. Unsere Dichter dagegen
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