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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band.

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sie sagten sich wol mit Schmerz: sie ist für immer verloren. Sie möchten
hoffen, daß eine Wiedererlangung möglich sei.

An diesen Schluß knüpfte er die letzte Predigt unmittelbar an. Wie Christus
den Juden sagte: ihr irrt, weil ihr die Schrift nicht kennt, und weil ihr die
Macht Gottes uicht kennt -- so sage ich zu denen, die mir erwiedern: Einheit
war nicht Christi Wunsch -- ihr irrt, weil ihr die Schrift nicht kennt; und zu
denen die mir erwiedern: sie ist unmöglich -- ihr irrt, weil ihr Gottes Macht
nicht keunt.

In der physischen Welt herrscht die höchste Einheit, denselben Gesetzen ge¬
horcht die Natur in ihren größten wie kleinsten Erscheinungen. Der Pfeil, der
von dem Bogen eines Kindes fliegt, beschreibt dieselbe Bahn wie die Planeten.
Das Hochgebirge, das in den Tiefen der Erde wurzelt und bis in die Wolken
dringt, wird von einer Cohäsion zusammengehalten, die keine irdische Macht zu
zerstören vermag; und Gottes Hand, die die Elemente verbunden hat, kann sie
lösen, an jenem Tage wo die Berge schmelzen. Denselben unlösbaren Zusammen¬
hang der Elemente zeigen die durch antediluvianische Revolution von der Haupt¬
masse abgespaltenen Felsen, die Jahrtausende stehn ohne zu wanken; denselben der
herabgestürzte Block, denselben das Stück, das der Geolog oder Mechaniker ab¬
schlägt nicht größer als seine Hand -- und ist es zu Pulver zerrieben, so er¬
scheinen noch unter dem Mikroskop dieselben Theile in derselben Verbindung. Auch
in der geistlichen Ordnung hat eine solche die ganze Christenheit durchdringende
Einheit bestanden. Gehen wir zu ihrer Betrachtung in unserm Vaterland" vor
die Zeit Heinrichs des achten zurück.

Wir blicken in die Hütte des Landmanns. Dort kniete nach der Tagesarbeit
die Familie nieder und alle beteten Abend für Abend dasselbe Gebet, wie es ihre
Voreltern bis zu unvordenklichen Zeiten gebetet hatten, nicht ein Wort war ge¬
ändert. Wuchsen die Kinder heran und suchten Ausschluß über die göttlichen
Dinge bei Vater oder Mutter, bei Verwandten oder Freunden: sie empfingen
immer dieselbe Belehrung. Wenn dann der Sonntag kam, die Familie nach der
Kirche ging, die älteren an der Hand des Vaters, die kleinen in der Obhut der
Mutter -- sie gingen alle denselben Weg, sie trennten sich nicht an der Kirchen-
thür, sie knieten vor demselben Altar. Es war Einheit in der Familie -- das
ist der Zusammenhang der Elemente im Sandkorn. Zur Kirche kamen auf allen
Pfaden, von alleu Hügeln, von der die Umgegend beherrschenden Höhe des
Herrenhauses die Scharen der Gläubigen gezogen, und vereinigten sich wie
Bäche zum Strom. Aus. dem friedlichen Schatten alter Bäume blickte ihnen der
reichverzierte Bogen des Portals entgegen und von dem hochaufsteigenden Thurm
tönten die Glocken harmonisch zusammen, nicht in dissonirenden Tönen (!) -- in der
immer gleichen, allen verständlichen Sprache. Wenn dann der Priester die Kan¬
zel bestieg, sie fragten nicht, wer er sei. War er jung, er war um so thatkräf-


sie sagten sich wol mit Schmerz: sie ist für immer verloren. Sie möchten
hoffen, daß eine Wiedererlangung möglich sei.

An diesen Schluß knüpfte er die letzte Predigt unmittelbar an. Wie Christus
den Juden sagte: ihr irrt, weil ihr die Schrift nicht kennt, und weil ihr die
Macht Gottes uicht kennt — so sage ich zu denen, die mir erwiedern: Einheit
war nicht Christi Wunsch — ihr irrt, weil ihr die Schrift nicht kennt; und zu
denen die mir erwiedern: sie ist unmöglich — ihr irrt, weil ihr Gottes Macht
nicht keunt.

In der physischen Welt herrscht die höchste Einheit, denselben Gesetzen ge¬
horcht die Natur in ihren größten wie kleinsten Erscheinungen. Der Pfeil, der
von dem Bogen eines Kindes fliegt, beschreibt dieselbe Bahn wie die Planeten.
Das Hochgebirge, das in den Tiefen der Erde wurzelt und bis in die Wolken
dringt, wird von einer Cohäsion zusammengehalten, die keine irdische Macht zu
zerstören vermag; und Gottes Hand, die die Elemente verbunden hat, kann sie
lösen, an jenem Tage wo die Berge schmelzen. Denselben unlösbaren Zusammen¬
hang der Elemente zeigen die durch antediluvianische Revolution von der Haupt¬
masse abgespaltenen Felsen, die Jahrtausende stehn ohne zu wanken; denselben der
herabgestürzte Block, denselben das Stück, das der Geolog oder Mechaniker ab¬
schlägt nicht größer als seine Hand — und ist es zu Pulver zerrieben, so er¬
scheinen noch unter dem Mikroskop dieselben Theile in derselben Verbindung. Auch
in der geistlichen Ordnung hat eine solche die ganze Christenheit durchdringende
Einheit bestanden. Gehen wir zu ihrer Betrachtung in unserm Vaterland« vor
die Zeit Heinrichs des achten zurück.

Wir blicken in die Hütte des Landmanns. Dort kniete nach der Tagesarbeit
die Familie nieder und alle beteten Abend für Abend dasselbe Gebet, wie es ihre
Voreltern bis zu unvordenklichen Zeiten gebetet hatten, nicht ein Wort war ge¬
ändert. Wuchsen die Kinder heran und suchten Ausschluß über die göttlichen
Dinge bei Vater oder Mutter, bei Verwandten oder Freunden: sie empfingen
immer dieselbe Belehrung. Wenn dann der Sonntag kam, die Familie nach der
Kirche ging, die älteren an der Hand des Vaters, die kleinen in der Obhut der
Mutter — sie gingen alle denselben Weg, sie trennten sich nicht an der Kirchen-
thür, sie knieten vor demselben Altar. Es war Einheit in der Familie — das
ist der Zusammenhang der Elemente im Sandkorn. Zur Kirche kamen auf allen
Pfaden, von alleu Hügeln, von der die Umgegend beherrschenden Höhe des
Herrenhauses die Scharen der Gläubigen gezogen, und vereinigten sich wie
Bäche zum Strom. Aus. dem friedlichen Schatten alter Bäume blickte ihnen der
reichverzierte Bogen des Portals entgegen und von dem hochaufsteigenden Thurm
tönten die Glocken harmonisch zusammen, nicht in dissonirenden Tönen (!) — in der
immer gleichen, allen verständlichen Sprache. Wenn dann der Priester die Kan¬
zel bestieg, sie fragten nicht, wer er sei. War er jung, er war um so thatkräf-


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[0151] sie sagten sich wol mit Schmerz: sie ist für immer verloren. Sie möchten hoffen, daß eine Wiedererlangung möglich sei. An diesen Schluß knüpfte er die letzte Predigt unmittelbar an. Wie Christus den Juden sagte: ihr irrt, weil ihr die Schrift nicht kennt, und weil ihr die Macht Gottes uicht kennt — so sage ich zu denen, die mir erwiedern: Einheit war nicht Christi Wunsch — ihr irrt, weil ihr die Schrift nicht kennt; und zu denen die mir erwiedern: sie ist unmöglich — ihr irrt, weil ihr Gottes Macht nicht keunt. In der physischen Welt herrscht die höchste Einheit, denselben Gesetzen ge¬ horcht die Natur in ihren größten wie kleinsten Erscheinungen. Der Pfeil, der von dem Bogen eines Kindes fliegt, beschreibt dieselbe Bahn wie die Planeten. Das Hochgebirge, das in den Tiefen der Erde wurzelt und bis in die Wolken dringt, wird von einer Cohäsion zusammengehalten, die keine irdische Macht zu zerstören vermag; und Gottes Hand, die die Elemente verbunden hat, kann sie lösen, an jenem Tage wo die Berge schmelzen. Denselben unlösbaren Zusammen¬ hang der Elemente zeigen die durch antediluvianische Revolution von der Haupt¬ masse abgespaltenen Felsen, die Jahrtausende stehn ohne zu wanken; denselben der herabgestürzte Block, denselben das Stück, das der Geolog oder Mechaniker ab¬ schlägt nicht größer als seine Hand — und ist es zu Pulver zerrieben, so er¬ scheinen noch unter dem Mikroskop dieselben Theile in derselben Verbindung. Auch in der geistlichen Ordnung hat eine solche die ganze Christenheit durchdringende Einheit bestanden. Gehen wir zu ihrer Betrachtung in unserm Vaterland« vor die Zeit Heinrichs des achten zurück. Wir blicken in die Hütte des Landmanns. Dort kniete nach der Tagesarbeit die Familie nieder und alle beteten Abend für Abend dasselbe Gebet, wie es ihre Voreltern bis zu unvordenklichen Zeiten gebetet hatten, nicht ein Wort war ge¬ ändert. Wuchsen die Kinder heran und suchten Ausschluß über die göttlichen Dinge bei Vater oder Mutter, bei Verwandten oder Freunden: sie empfingen immer dieselbe Belehrung. Wenn dann der Sonntag kam, die Familie nach der Kirche ging, die älteren an der Hand des Vaters, die kleinen in der Obhut der Mutter — sie gingen alle denselben Weg, sie trennten sich nicht an der Kirchen- thür, sie knieten vor demselben Altar. Es war Einheit in der Familie — das ist der Zusammenhang der Elemente im Sandkorn. Zur Kirche kamen auf allen Pfaden, von alleu Hügeln, von der die Umgegend beherrschenden Höhe des Herrenhauses die Scharen der Gläubigen gezogen, und vereinigten sich wie Bäche zum Strom. Aus. dem friedlichen Schatten alter Bäume blickte ihnen der reichverzierte Bogen des Portals entgegen und von dem hochaufsteigenden Thurm tönten die Glocken harmonisch zusammen, nicht in dissonirenden Tönen (!) — in der immer gleichen, allen verständlichen Sprache. Wenn dann der Priester die Kan¬ zel bestieg, sie fragten nicht, wer er sei. War er jung, er war um so thatkräf-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97245/151>, abgerufen am 22.07.2024.