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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band.

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kämpft, während dieses unter dem angehängten Bleigewicht erlahmt. Nicht anders ist
es mit Elsas Erzählung, wo die Singstimme ebenfalls zu keiner freien Selbstständig-
keit gelangt. Hier hätte allerdings durch Genialität der Erfindung und Meister¬
schaft in der Technik vieles besser gemacht werden können, allein der letzte Grund
des Verfehlten liegt in dem verkehrten Princip.

Dies führt uns auf eine vorgebliche Eigenthümlichkeit der Wagnerschen Musik,
welche man häufig als einen Vorzug ganz besonderer Vornehmheit rühmen Hort;
"sie habe keine Melodien, die man selbstständig auffassen und mit nach Hause
nehmen könne, und ebensowenig einzelne abgeschlossene Sätze, die man heraus¬
trennen könne, für die Pianos der Dilettanten". Das letzte hat schon Liszt
factisch widerlegt, der mehre einzelne Stücke für Pianoforte transscribirt hat,
und unsere Gartenconcerte thun es fortwährend. Die erste Behauptung kann
wol nur auf einem Mißverständniß beruhen. Wagner selbst sagt mir, er wolle
keine Operumelodien, was denn von den Nachbetern ungeschickt verallgemeinert
ist. Was er unter Opermelodien meint, gibt er nicht an und ich getraue mir
nicht es auszulegen. Aber eine wunderliche Kategorie ist jedenfalls die der nach
Hause zu bringenden Melodien, wenn damit Lob oder Tadel ausgesprochen werden
soll; es kommt dabei auf das Individuum an: den einen erfreuet was er nach
Hause bringt, und ein anderer wäre dasselbe herzlich gern los. Uebrigens müßte
einer taub sein, wenn er die stehenden Motive im Lohengrin nicht behalten sollte.
Und eben diese stehenden Motive, die überall eingeschoben werden, sind doch wol
Beweis genng für die Selbstständigkeit Wagnerscher Melodien? Bei streng thema¬
tischer Behandlung, wie bei Bach, bei organischem Durchbilden und Verwachsen,
wie bei Beethoven, ist allerdings ein Herauslösen der einzelnen Theile fast un¬
möglich, weil das Einzelne nur im Ganzen Bedeutung hat, allein wo nur ein
Aneinanderreihen der einzelnen Momente stattfindet, gibt sich die Treuubarkeit
von selbst. Man muß freilich nicht jeden leidenschaftlichen Accent einer recita¬
tivischen Stelle als selbstständiges Ganze auffassen und mit nach Hanse nehmen
wollen -- aber wer wird auch so unnatürliche Gelüste haben. Was die Melodien¬
bildung anlangt, so ist dies wol der Punkt, wo der individuelle Geschmack am
entschiedensten sich geltend macht. Meines Erachtens zeigt Wagner hier keine
große und namentlich keine freie Erfindung, das Bestreben, charakteristisch zu sein,
läßt keinen ruhigen Fluß und keine harmonische Ausbildung zu. Die lyrische"
Stellen der Elsa zeichnen sich noch am meisten aus, aber sie sind zu weichlich,
wie z. B. der chromatische Jammer bei den Worten "mein Aug'ist zugefallen";
die breiter angelegte Melodie im Duett mit Ortrud hat keinen rechten Halt und
geht auseinander; wo sie leidenschaftlich wird, ist die Partie fast überall unedel.
Wirklich schöne Züge sind meist vorübergehend, wie z. B. der Beginn des
Liebesduetts; die falsche Vorstellung vom Charakteristischen läßt kein Festhalten
und Fortführen zu. Dagegen sind Melodien, die vollständig verschroben sind,


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kämpft, während dieses unter dem angehängten Bleigewicht erlahmt. Nicht anders ist
es mit Elsas Erzählung, wo die Singstimme ebenfalls zu keiner freien Selbstständig-
keit gelangt. Hier hätte allerdings durch Genialität der Erfindung und Meister¬
schaft in der Technik vieles besser gemacht werden können, allein der letzte Grund
des Verfehlten liegt in dem verkehrten Princip.

Dies führt uns auf eine vorgebliche Eigenthümlichkeit der Wagnerschen Musik,
welche man häufig als einen Vorzug ganz besonderer Vornehmheit rühmen Hort;
„sie habe keine Melodien, die man selbstständig auffassen und mit nach Hause
nehmen könne, und ebensowenig einzelne abgeschlossene Sätze, die man heraus¬
trennen könne, für die Pianos der Dilettanten". Das letzte hat schon Liszt
factisch widerlegt, der mehre einzelne Stücke für Pianoforte transscribirt hat,
und unsere Gartenconcerte thun es fortwährend. Die erste Behauptung kann
wol nur auf einem Mißverständniß beruhen. Wagner selbst sagt mir, er wolle
keine Operumelodien, was denn von den Nachbetern ungeschickt verallgemeinert
ist. Was er unter Opermelodien meint, gibt er nicht an und ich getraue mir
nicht es auszulegen. Aber eine wunderliche Kategorie ist jedenfalls die der nach
Hause zu bringenden Melodien, wenn damit Lob oder Tadel ausgesprochen werden
soll; es kommt dabei auf das Individuum an: den einen erfreuet was er nach
Hause bringt, und ein anderer wäre dasselbe herzlich gern los. Uebrigens müßte
einer taub sein, wenn er die stehenden Motive im Lohengrin nicht behalten sollte.
Und eben diese stehenden Motive, die überall eingeschoben werden, sind doch wol
Beweis genng für die Selbstständigkeit Wagnerscher Melodien? Bei streng thema¬
tischer Behandlung, wie bei Bach, bei organischem Durchbilden und Verwachsen,
wie bei Beethoven, ist allerdings ein Herauslösen der einzelnen Theile fast un¬
möglich, weil das Einzelne nur im Ganzen Bedeutung hat, allein wo nur ein
Aneinanderreihen der einzelnen Momente stattfindet, gibt sich die Treuubarkeit
von selbst. Man muß freilich nicht jeden leidenschaftlichen Accent einer recita¬
tivischen Stelle als selbstständiges Ganze auffassen und mit nach Hanse nehmen
wollen — aber wer wird auch so unnatürliche Gelüste haben. Was die Melodien¬
bildung anlangt, so ist dies wol der Punkt, wo der individuelle Geschmack am
entschiedensten sich geltend macht. Meines Erachtens zeigt Wagner hier keine
große und namentlich keine freie Erfindung, das Bestreben, charakteristisch zu sein,
läßt keinen ruhigen Fluß und keine harmonische Ausbildung zu. Die lyrische»
Stellen der Elsa zeichnen sich noch am meisten aus, aber sie sind zu weichlich,
wie z. B. der chromatische Jammer bei den Worten „mein Aug'ist zugefallen";
die breiter angelegte Melodie im Duett mit Ortrud hat keinen rechten Halt und
geht auseinander; wo sie leidenschaftlich wird, ist die Partie fast überall unedel.
Wirklich schöne Züge sind meist vorübergehend, wie z. B. der Beginn des
Liebesduetts; die falsche Vorstellung vom Charakteristischen läßt kein Festhalten
und Fortführen zu. Dagegen sind Melodien, die vollständig verschroben sind,


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[0137] kämpft, während dieses unter dem angehängten Bleigewicht erlahmt. Nicht anders ist es mit Elsas Erzählung, wo die Singstimme ebenfalls zu keiner freien Selbstständig- keit gelangt. Hier hätte allerdings durch Genialität der Erfindung und Meister¬ schaft in der Technik vieles besser gemacht werden können, allein der letzte Grund des Verfehlten liegt in dem verkehrten Princip. Dies führt uns auf eine vorgebliche Eigenthümlichkeit der Wagnerschen Musik, welche man häufig als einen Vorzug ganz besonderer Vornehmheit rühmen Hort; „sie habe keine Melodien, die man selbstständig auffassen und mit nach Hause nehmen könne, und ebensowenig einzelne abgeschlossene Sätze, die man heraus¬ trennen könne, für die Pianos der Dilettanten". Das letzte hat schon Liszt factisch widerlegt, der mehre einzelne Stücke für Pianoforte transscribirt hat, und unsere Gartenconcerte thun es fortwährend. Die erste Behauptung kann wol nur auf einem Mißverständniß beruhen. Wagner selbst sagt mir, er wolle keine Operumelodien, was denn von den Nachbetern ungeschickt verallgemeinert ist. Was er unter Opermelodien meint, gibt er nicht an und ich getraue mir nicht es auszulegen. Aber eine wunderliche Kategorie ist jedenfalls die der nach Hause zu bringenden Melodien, wenn damit Lob oder Tadel ausgesprochen werden soll; es kommt dabei auf das Individuum an: den einen erfreuet was er nach Hause bringt, und ein anderer wäre dasselbe herzlich gern los. Uebrigens müßte einer taub sein, wenn er die stehenden Motive im Lohengrin nicht behalten sollte. Und eben diese stehenden Motive, die überall eingeschoben werden, sind doch wol Beweis genng für die Selbstständigkeit Wagnerscher Melodien? Bei streng thema¬ tischer Behandlung, wie bei Bach, bei organischem Durchbilden und Verwachsen, wie bei Beethoven, ist allerdings ein Herauslösen der einzelnen Theile fast un¬ möglich, weil das Einzelne nur im Ganzen Bedeutung hat, allein wo nur ein Aneinanderreihen der einzelnen Momente stattfindet, gibt sich die Treuubarkeit von selbst. Man muß freilich nicht jeden leidenschaftlichen Accent einer recita¬ tivischen Stelle als selbstständiges Ganze auffassen und mit nach Hanse nehmen wollen — aber wer wird auch so unnatürliche Gelüste haben. Was die Melodien¬ bildung anlangt, so ist dies wol der Punkt, wo der individuelle Geschmack am entschiedensten sich geltend macht. Meines Erachtens zeigt Wagner hier keine große und namentlich keine freie Erfindung, das Bestreben, charakteristisch zu sein, läßt keinen ruhigen Fluß und keine harmonische Ausbildung zu. Die lyrische» Stellen der Elsa zeichnen sich noch am meisten aus, aber sie sind zu weichlich, wie z. B. der chromatische Jammer bei den Worten „mein Aug'ist zugefallen"; die breiter angelegte Melodie im Duett mit Ortrud hat keinen rechten Halt und geht auseinander; wo sie leidenschaftlich wird, ist die Partie fast überall unedel. Wirklich schöne Züge sind meist vorübergehend, wie z. B. der Beginn des Liebesduetts; die falsche Vorstellung vom Charakteristischen läßt kein Festhalten und Fortführen zu. Dagegen sind Melodien, die vollständig verschroben sind, Grenzboten. I. 18si>. 17

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97245/137>, abgerufen am 22.07.2024.