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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band.

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Berechnung gewisser Effecte und geschickte Handhabung gewisser Mittel, aber keines¬
wegs hervorragende Erfindung, nicht einmal unbedingte Selbstständigkeit. Das
Duett ist scharf charakterisiert, in leidenschaftlichen Accenten, ohne den Wohl¬
laut gradezu zu verletzen, aber das Modell dafür wie für die ganze Scene ist
so sichtbar Webers Euryanthe, daß ohne bestimmten nachweisbaren Anklang
man doch fortwährend an dieselbe erinnert wird; die Impulse sind daher ge¬
nommen und nur die Steigerung der Mittel ist neu. Als Euryanthe zuerst
erschien, nahm man besonders an dieser Scene zwischen Lysiart und Eglantine An¬
stoß und fand sie bis zur Ungenießbarkeit stark gewürzt; und was sind jene
Würzen gegen diese Assasontida! Der Männerchor hat etwas von der fran-
zösisirenden Weise, die Männerstimmen zu behandeln, wie wir sie namentlich auch
bei Meyerbeer finden, welche dem Liedertafelcharakter, den dergleichen Sätze
leicht haben, etwas feineren Parfum gibt, ohne ihn auf eine höhere künstlerische
Stufe zu heben; während sonst bei den Männerchören, wo sie nicht rein har¬
monisch gehalten sind, wie durchgehends die der Euryanthe, mehr der Einfluß
Mendelssohns, aber auch Marschners sichtbar wird. Das Brautlied ist gefällig
und hübsch, ohne eben originell zu sein, und würde in jeder französischen Oper
einen ehrenvollen Platz finden. DaS Gebet aber ist in merkwürdiger Weise ganz
Mendelssohnisch, im Ausdruck der Frömmigkeit, in der Führung der Melodie, in
den harmonischen Wendungen und Uebergängen -- mit Ausnahme einiger schnei¬
denden Harten, die Mendelssohn überhaupt nicht zugelassen hätte, und hier
gewiß nicht, weil sie ganz unmotivirt sind -- in der Art, wie Tenor und Baß
unisono die Melodie übernehmen, in der Verlängerung des Schlusses, kurz
so vollständig, daß man hier fast von der Schablone sprechen könnte. Es
schadet der Wirkung nicht; aber wie kommt Wagner dazu? und wie kommen
begeisterte Wagnerianer dazu, grade diesen Satz lebhaft zu beklatschen?

Indessen sagt man vielleicht, hierin sei Wagners eigentliches Wesen nicht
zu finden, es seien das noch die letzten Ringe der Kette, die der Genius ge¬
sprengt habe, glänzende Fehler und Schwächen des Reformators. Suchen wir ihn
also auf seinem Gebiet, dem der dramatischen Charakteristik im oben angedeuteten Sinn.
Da es hier die Ausgabe der Musik wird, nicht nur dem Gange der Handlung zu folgen,
sondern die einzelnen psychischen Regungen auszudrücken, welche die Handlung moti-
viren, so wird eine fortlaufende Rolle von einzelnen Motiven gesponnen, die sich zwar
eines von dem andern unterscheiden, aber ohne dem Gesetze einer höhere" Organisation
unterworfen zu sein: es entsteht eine Darstellungsweise, welche Recitativ und Cantilene
miteinander zu verbinden sucht, bald das eine Element, bald das andere vorwiegen
läßt, ohne eines vollständig seiner Natur gemäß zu entwickeln. Allerdings wird
die Charakteristik und das Verständniß derselben dadurch scheinbar erleichtert, weil
es hierbei nur darauf ankommt, für ein Einzelnes den Ausdruck z" finden und
aufzufassen, was freilich leichter ist, als das Einzelne als integrirenden Theil


Berechnung gewisser Effecte und geschickte Handhabung gewisser Mittel, aber keines¬
wegs hervorragende Erfindung, nicht einmal unbedingte Selbstständigkeit. Das
Duett ist scharf charakterisiert, in leidenschaftlichen Accenten, ohne den Wohl¬
laut gradezu zu verletzen, aber das Modell dafür wie für die ganze Scene ist
so sichtbar Webers Euryanthe, daß ohne bestimmten nachweisbaren Anklang
man doch fortwährend an dieselbe erinnert wird; die Impulse sind daher ge¬
nommen und nur die Steigerung der Mittel ist neu. Als Euryanthe zuerst
erschien, nahm man besonders an dieser Scene zwischen Lysiart und Eglantine An¬
stoß und fand sie bis zur Ungenießbarkeit stark gewürzt; und was sind jene
Würzen gegen diese Assasontida! Der Männerchor hat etwas von der fran-
zösisirenden Weise, die Männerstimmen zu behandeln, wie wir sie namentlich auch
bei Meyerbeer finden, welche dem Liedertafelcharakter, den dergleichen Sätze
leicht haben, etwas feineren Parfum gibt, ohne ihn auf eine höhere künstlerische
Stufe zu heben; während sonst bei den Männerchören, wo sie nicht rein har¬
monisch gehalten sind, wie durchgehends die der Euryanthe, mehr der Einfluß
Mendelssohns, aber auch Marschners sichtbar wird. Das Brautlied ist gefällig
und hübsch, ohne eben originell zu sein, und würde in jeder französischen Oper
einen ehrenvollen Platz finden. DaS Gebet aber ist in merkwürdiger Weise ganz
Mendelssohnisch, im Ausdruck der Frömmigkeit, in der Führung der Melodie, in
den harmonischen Wendungen und Uebergängen — mit Ausnahme einiger schnei¬
denden Harten, die Mendelssohn überhaupt nicht zugelassen hätte, und hier
gewiß nicht, weil sie ganz unmotivirt sind — in der Art, wie Tenor und Baß
unisono die Melodie übernehmen, in der Verlängerung des Schlusses, kurz
so vollständig, daß man hier fast von der Schablone sprechen könnte. Es
schadet der Wirkung nicht; aber wie kommt Wagner dazu? und wie kommen
begeisterte Wagnerianer dazu, grade diesen Satz lebhaft zu beklatschen?

Indessen sagt man vielleicht, hierin sei Wagners eigentliches Wesen nicht
zu finden, es seien das noch die letzten Ringe der Kette, die der Genius ge¬
sprengt habe, glänzende Fehler und Schwächen des Reformators. Suchen wir ihn
also auf seinem Gebiet, dem der dramatischen Charakteristik im oben angedeuteten Sinn.
Da es hier die Ausgabe der Musik wird, nicht nur dem Gange der Handlung zu folgen,
sondern die einzelnen psychischen Regungen auszudrücken, welche die Handlung moti-
viren, so wird eine fortlaufende Rolle von einzelnen Motiven gesponnen, die sich zwar
eines von dem andern unterscheiden, aber ohne dem Gesetze einer höhere» Organisation
unterworfen zu sein: es entsteht eine Darstellungsweise, welche Recitativ und Cantilene
miteinander zu verbinden sucht, bald das eine Element, bald das andere vorwiegen
läßt, ohne eines vollständig seiner Natur gemäß zu entwickeln. Allerdings wird
die Charakteristik und das Verständniß derselben dadurch scheinbar erleichtert, weil
es hierbei nur darauf ankommt, für ein Einzelnes den Ausdruck z» finden und
aufzufassen, was freilich leichter ist, als das Einzelne als integrirenden Theil


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[0131] Berechnung gewisser Effecte und geschickte Handhabung gewisser Mittel, aber keines¬ wegs hervorragende Erfindung, nicht einmal unbedingte Selbstständigkeit. Das Duett ist scharf charakterisiert, in leidenschaftlichen Accenten, ohne den Wohl¬ laut gradezu zu verletzen, aber das Modell dafür wie für die ganze Scene ist so sichtbar Webers Euryanthe, daß ohne bestimmten nachweisbaren Anklang man doch fortwährend an dieselbe erinnert wird; die Impulse sind daher ge¬ nommen und nur die Steigerung der Mittel ist neu. Als Euryanthe zuerst erschien, nahm man besonders an dieser Scene zwischen Lysiart und Eglantine An¬ stoß und fand sie bis zur Ungenießbarkeit stark gewürzt; und was sind jene Würzen gegen diese Assasontida! Der Männerchor hat etwas von der fran- zösisirenden Weise, die Männerstimmen zu behandeln, wie wir sie namentlich auch bei Meyerbeer finden, welche dem Liedertafelcharakter, den dergleichen Sätze leicht haben, etwas feineren Parfum gibt, ohne ihn auf eine höhere künstlerische Stufe zu heben; während sonst bei den Männerchören, wo sie nicht rein har¬ monisch gehalten sind, wie durchgehends die der Euryanthe, mehr der Einfluß Mendelssohns, aber auch Marschners sichtbar wird. Das Brautlied ist gefällig und hübsch, ohne eben originell zu sein, und würde in jeder französischen Oper einen ehrenvollen Platz finden. DaS Gebet aber ist in merkwürdiger Weise ganz Mendelssohnisch, im Ausdruck der Frömmigkeit, in der Führung der Melodie, in den harmonischen Wendungen und Uebergängen — mit Ausnahme einiger schnei¬ denden Harten, die Mendelssohn überhaupt nicht zugelassen hätte, und hier gewiß nicht, weil sie ganz unmotivirt sind — in der Art, wie Tenor und Baß unisono die Melodie übernehmen, in der Verlängerung des Schlusses, kurz so vollständig, daß man hier fast von der Schablone sprechen könnte. Es schadet der Wirkung nicht; aber wie kommt Wagner dazu? und wie kommen begeisterte Wagnerianer dazu, grade diesen Satz lebhaft zu beklatschen? Indessen sagt man vielleicht, hierin sei Wagners eigentliches Wesen nicht zu finden, es seien das noch die letzten Ringe der Kette, die der Genius ge¬ sprengt habe, glänzende Fehler und Schwächen des Reformators. Suchen wir ihn also auf seinem Gebiet, dem der dramatischen Charakteristik im oben angedeuteten Sinn. Da es hier die Ausgabe der Musik wird, nicht nur dem Gange der Handlung zu folgen, sondern die einzelnen psychischen Regungen auszudrücken, welche die Handlung moti- viren, so wird eine fortlaufende Rolle von einzelnen Motiven gesponnen, die sich zwar eines von dem andern unterscheiden, aber ohne dem Gesetze einer höhere» Organisation unterworfen zu sein: es entsteht eine Darstellungsweise, welche Recitativ und Cantilene miteinander zu verbinden sucht, bald das eine Element, bald das andere vorwiegen läßt, ohne eines vollständig seiner Natur gemäß zu entwickeln. Allerdings wird die Charakteristik und das Verständniß derselben dadurch scheinbar erleichtert, weil es hierbei nur darauf ankommt, für ein Einzelnes den Ausdruck z» finden und aufzufassen, was freilich leichter ist, als das Einzelne als integrirenden Theil

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97245/131>, abgerufen am 22.07.2024.