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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

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schen weit nachstehen; ein holländischer Volksschüler weiß jedenfalls mehr und
genauer als ein deutscher, ein niederländischer Student übertrifft den deutschen
in Fleiß und geistigem Interesse, und nur die Gymnasien stehen den deutschen
nach, weil das gelehrte Studium eben ein nicht so verbreitetes Versorgungs¬
mittel ist, als in dem armen und an hochmüthigen Beamten und verarmten
Adligen reichen Deutschland. Wo endlich haben vom Staate begünstigte
Philosophie- und Religionssysteme weniger die sreie Aeußerung des Wissens
und Denkens gehemmt als in den Niederlanden?

Endlich steht die .Volksbildung, welche zur Erhaltung des confessionellen
Friedens soviel beiträgt, ebendeshalb so hoch, weil weder eine herrschsüchtige
Bureaukratie das Schulwesen meistert, noch confessionelle Parteisucht sich wechsels¬
weise die Geldmittel vorenthält; denn das niederländische Volksschulwesen,
hervorgegangen aus den Bestrebungen der berühmten Naatsedapp^ tot riut van
IM ^Ixsilttzen, nach deren Principien gesetzlich geordnet durch den großen Raths¬
pensionär Schimmelpennink im Jahre 4806, genießt die beiden unvergleichli¬
chen Vortheile, erstens ein christlich-humanes und nicht ein confesstonell-
dogmatisches zu sein, und zweitens nicht bureaukmtisch gouvernirt, sondern von
Gemeinde, Provinz oder Privaten mit jener praktischen Verständigkeit regiert
zu werden, die sich in den mittlern Kreisen der Menschheit und sür die eignen
und naheliegenden Angelegenheiten fast ebenso gewöhnlich findet, als sie eben
zu sein pflegt. Freilich hat der Mangel an einer concentrirten Staatsleitung
des Unterrichtswesens in Verband mit den seit einem halben Jahrhundert
bedrängten Finanzen die niederländische Wissenschaft und noch mehr die Kunst
ohne jenen Glanz gelassen, welchen große, bureaukratisch regierte Staaten, wie
Frankreich, Preußen ':c. oder die reichen Privaten Englands ihr verliehen
haben, aber nach unsrer Ansicht ohne sehr großen Schaden sür den reellen
Fortschritt.

Wir wenden uns zur dritten Haupteigenschaft der niederländischen Geistes¬
bildung, nämlich dem Mangel an und der Scheu vor logischer Consequenz.
Sie hat drei Hauptursachen, erstens das unbedingte Festhalten an dem biblischen
Standpunkt, zweitens die starke Hinneigung zur Gefühlspoesie und Romantik,
drittens die übertriebene Achtung vor dem Bestehenden.

Was die zweite dieser Ursachen betrifft, so hat der Holländer diese Eigen¬
schaft gemein mit den norddeutschen und skandinavischen Völkern, übertrifft
diese Stammverwandten darin aber weit, daß er sie nicht blos auf die poeti¬
schen Lebensmomente und die literarischen Erzeugnisse derselben beschränkt,
sondern mehr oder weniger sein ganzes geistiges Dasein, seine ganze Literatur
romantisch und gefühlspoetisch färbt. "

Nirgend ist die Frauenwelt für sentimentale Gespräche, romantisches Aeußere
und Empfindeleien empfänglicher, als in den Niederlanden, wo ein gewisser


schen weit nachstehen; ein holländischer Volksschüler weiß jedenfalls mehr und
genauer als ein deutscher, ein niederländischer Student übertrifft den deutschen
in Fleiß und geistigem Interesse, und nur die Gymnasien stehen den deutschen
nach, weil das gelehrte Studium eben ein nicht so verbreitetes Versorgungs¬
mittel ist, als in dem armen und an hochmüthigen Beamten und verarmten
Adligen reichen Deutschland. Wo endlich haben vom Staate begünstigte
Philosophie- und Religionssysteme weniger die sreie Aeußerung des Wissens
und Denkens gehemmt als in den Niederlanden?

Endlich steht die .Volksbildung, welche zur Erhaltung des confessionellen
Friedens soviel beiträgt, ebendeshalb so hoch, weil weder eine herrschsüchtige
Bureaukratie das Schulwesen meistert, noch confessionelle Parteisucht sich wechsels¬
weise die Geldmittel vorenthält; denn das niederländische Volksschulwesen,
hervorgegangen aus den Bestrebungen der berühmten Naatsedapp^ tot riut van
IM ^Ixsilttzen, nach deren Principien gesetzlich geordnet durch den großen Raths¬
pensionär Schimmelpennink im Jahre 4806, genießt die beiden unvergleichli¬
chen Vortheile, erstens ein christlich-humanes und nicht ein confesstonell-
dogmatisches zu sein, und zweitens nicht bureaukmtisch gouvernirt, sondern von
Gemeinde, Provinz oder Privaten mit jener praktischen Verständigkeit regiert
zu werden, die sich in den mittlern Kreisen der Menschheit und sür die eignen
und naheliegenden Angelegenheiten fast ebenso gewöhnlich findet, als sie eben
zu sein pflegt. Freilich hat der Mangel an einer concentrirten Staatsleitung
des Unterrichtswesens in Verband mit den seit einem halben Jahrhundert
bedrängten Finanzen die niederländische Wissenschaft und noch mehr die Kunst
ohne jenen Glanz gelassen, welchen große, bureaukratisch regierte Staaten, wie
Frankreich, Preußen ':c. oder die reichen Privaten Englands ihr verliehen
haben, aber nach unsrer Ansicht ohne sehr großen Schaden sür den reellen
Fortschritt.

Wir wenden uns zur dritten Haupteigenschaft der niederländischen Geistes¬
bildung, nämlich dem Mangel an und der Scheu vor logischer Consequenz.
Sie hat drei Hauptursachen, erstens das unbedingte Festhalten an dem biblischen
Standpunkt, zweitens die starke Hinneigung zur Gefühlspoesie und Romantik,
drittens die übertriebene Achtung vor dem Bestehenden.

Was die zweite dieser Ursachen betrifft, so hat der Holländer diese Eigen¬
schaft gemein mit den norddeutschen und skandinavischen Völkern, übertrifft
diese Stammverwandten darin aber weit, daß er sie nicht blos auf die poeti¬
schen Lebensmomente und die literarischen Erzeugnisse derselben beschränkt,
sondern mehr oder weniger sein ganzes geistiges Dasein, seine ganze Literatur
romantisch und gefühlspoetisch färbt. "

Nirgend ist die Frauenwelt für sentimentale Gespräche, romantisches Aeußere
und Empfindeleien empfänglicher, als in den Niederlanden, wo ein gewisser


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/95>, abgerufen am 22.07.2024.