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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

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Man konnte hinaus vielleicht schließen, daß die Prediger einen über¬
wiegenden Einfluß auf die religiösen Ansichten ihrer Gemeindemitglieder übten,
aber gewiß fälschlich, da der Holländer es für eine eonclitio sins Mg, non eines
einigermaßen unterrichteten Mannes hält, eine bestimmte religiöse Ansicht zu
haben und überall zu vertheidigen, freilich nur auf dem allen Konfessionen und
Sekten gemeinsamen Boden, der Göttlichkeit der Bibel.

Die Prediger sind auch pecuniär nicht hoch gestellt, desto höher aber
social, so daß eine reiche Heirath für einen Prediger fast ebenso leicht erreichbar
als selbstverständlich ist. Nur die Prediger in Ostindien sind mit 6--8000 si.
jährlich besoldet und also im Stande, noch frühzeitig genug heimzukehren, um
ihren Gewinn zu genießen.

Wie sehr die reformirte Weltanschauung nicht blos die Wissenschaft und
das praktische Leben, sondern auch die Aeußerlichkeiten des Lebens beherrscht,
wäre Gegenstand einer selbst bis zur althvlländischen Kunstschule zurückgreifen¬
den und. also für unsre Uebersicht zu weitläufigen Untersuchung; als Probe
möge nur die allgemeine niederländische Sitte der reformirten Bevölkerung
dienen, sich nur in dunkle Farben zu kleiden, vorzüglich in Schwarz und Weiß,
von denen ein reformirter Kirchenlehrer die erste Farbe als das Symbol des
Gnadenfalls und die zweite als das der Erlösung bezeichnet; ein bunt geklei.
tetes Mädchen aus mittleren und niedern Ständen ist in den Niederlanden
entweder eine Katholikin oder eine Fremde, und der schwarze Frack, schwarzes
Beinkleid und dunkle Weste nebst weißem Halstuche der tägliche wie feierliche
Anzug eines gebildeten Holländers.

Wenn wir als zweite Eigenschaft der niederländischen geistigen Entwick¬
lung das Fehlen jedes bureaukratischen Einflusses nannten, so bezeichneten wir
damit zugleich einen der größten politischen und socialen Vorzüge des nieder¬
ländischen Volke .

Der ganze Verlauf der niederländischen Geschichte, insbesondere aber der
nach dem Freiheitskriege, zeigt einen fortwährenden siegreichen Kampf der Selbst-
ständigkeit, Selbstregierung der Korporationen, Gemeinden, Provinzen gegen
die Centralisation; kam dazu noch die in allen reichen Handelslanden gewöhn¬
liche Erscheinung, daß die öffentlichen Aemter mehr der Ehre und des Ein¬
flusses, als der Besoldungen wegen gesucht werden, so erklärt sich, wie die
Niederlande keine Büreaukratie und keine bürokratische Weltanschauung kennen;
der schwache Versuch Wilhelm I., sie zu schaffen, erlag spurlos mit der Loö-
trennung Belgiens.

Der Richterstand ist eine Ehrencarriere, indem die Besoldungen bei keinem
Richter, selbst nicht dem untersten, dem Eantonrichter, ausreichen; die Ver¬
waltungsbeamten sind, bis auf einige Büreaubeamte, entweder junge Advocaten,
die des zeitweiligen Broterwerbes wegen, oder Männer, welche des politischen


Man konnte hinaus vielleicht schließen, daß die Prediger einen über¬
wiegenden Einfluß auf die religiösen Ansichten ihrer Gemeindemitglieder übten,
aber gewiß fälschlich, da der Holländer es für eine eonclitio sins Mg, non eines
einigermaßen unterrichteten Mannes hält, eine bestimmte religiöse Ansicht zu
haben und überall zu vertheidigen, freilich nur auf dem allen Konfessionen und
Sekten gemeinsamen Boden, der Göttlichkeit der Bibel.

Die Prediger sind auch pecuniär nicht hoch gestellt, desto höher aber
social, so daß eine reiche Heirath für einen Prediger fast ebenso leicht erreichbar
als selbstverständlich ist. Nur die Prediger in Ostindien sind mit 6—8000 si.
jährlich besoldet und also im Stande, noch frühzeitig genug heimzukehren, um
ihren Gewinn zu genießen.

Wie sehr die reformirte Weltanschauung nicht blos die Wissenschaft und
das praktische Leben, sondern auch die Aeußerlichkeiten des Lebens beherrscht,
wäre Gegenstand einer selbst bis zur althvlländischen Kunstschule zurückgreifen¬
den und. also für unsre Uebersicht zu weitläufigen Untersuchung; als Probe
möge nur die allgemeine niederländische Sitte der reformirten Bevölkerung
dienen, sich nur in dunkle Farben zu kleiden, vorzüglich in Schwarz und Weiß,
von denen ein reformirter Kirchenlehrer die erste Farbe als das Symbol des
Gnadenfalls und die zweite als das der Erlösung bezeichnet; ein bunt geklei.
tetes Mädchen aus mittleren und niedern Ständen ist in den Niederlanden
entweder eine Katholikin oder eine Fremde, und der schwarze Frack, schwarzes
Beinkleid und dunkle Weste nebst weißem Halstuche der tägliche wie feierliche
Anzug eines gebildeten Holländers.

Wenn wir als zweite Eigenschaft der niederländischen geistigen Entwick¬
lung das Fehlen jedes bureaukratischen Einflusses nannten, so bezeichneten wir
damit zugleich einen der größten politischen und socialen Vorzüge des nieder¬
ländischen Volke .

Der ganze Verlauf der niederländischen Geschichte, insbesondere aber der
nach dem Freiheitskriege, zeigt einen fortwährenden siegreichen Kampf der Selbst-
ständigkeit, Selbstregierung der Korporationen, Gemeinden, Provinzen gegen
die Centralisation; kam dazu noch die in allen reichen Handelslanden gewöhn¬
liche Erscheinung, daß die öffentlichen Aemter mehr der Ehre und des Ein¬
flusses, als der Besoldungen wegen gesucht werden, so erklärt sich, wie die
Niederlande keine Büreaukratie und keine bürokratische Weltanschauung kennen;
der schwache Versuch Wilhelm I., sie zu schaffen, erlag spurlos mit der Loö-
trennung Belgiens.

Der Richterstand ist eine Ehrencarriere, indem die Besoldungen bei keinem
Richter, selbst nicht dem untersten, dem Eantonrichter, ausreichen; die Ver¬
waltungsbeamten sind, bis auf einige Büreaubeamte, entweder junge Advocaten,
die des zeitweiligen Broterwerbes wegen, oder Männer, welche des politischen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/92>, abgerufen am 22.07.2024.