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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

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Sprache durch das Gesetz der Attraction immer weiter ausbreiten, und ohne
gewaltsame Mittel wird der Kaiserstaat in seinen wirklich politischen Elementen
ein deutscher werden.

Mit diesem Punkt hängt die zweite Reform zusammen, die wir als noth¬
wendig bezeichnet haben, nämlich die Reform der Erziehung. Wir meinen da¬
mit, da wir hier nur einen ganz bestimmten Zweck im Auge haben, nicht die
eigentliche Volkserziehung, die in mancher Beziehung freilich viel wichtiger ist,
als das Schulwesen der gebildeten Classen, sondern wir meinen die höheren
Lehranstalten, die Gymnasien und Universitäten. Daß Oestreich in diesen Be¬
ziehungen soweit hinter dem übrigen Deutschland zurückgeblieben ist, hat einen
unheilvollen Einfluß auch auf seine politische Entwicklung ausgeübt. In Preu¬
ßen geht aus den Gymnasien und Universitäten jeder, der sich die ihm ge¬
botene Bildung wirklich aneignet, als preußischer Patriot und als Eiferer für
den Protestantismus hervor (was freilich nicht soviel heißen soll, als Begei-
sterung für den Herrn von Manteuffel und den Herrn Professor Hengstenberg);
in Oestreich dagegen, wo die Erziehung in den Händen der Geistlichen ist, wird
derjenige Theil der Mittelclassen, der sich nicht knechten läßt (in welchem Falle
er wieder für die höheren Staatszwecke unbrauchbar wäre), als ein Gegner der
bestehenden Staats- und Religionsansichten hervorgehen. Die Aristokratie trifft
dies weniger, weil sie in der Regel eine Privaterziehung genießt; aber grade
dieser Widerspruch in der aristokratischen und bürgerlichen Bildung ist sehr ge¬
fährlich für die nationale Entwicklung. Daneben hat der gebildete Oestreicher,
der mit dem deutschen Ausländer zusammenkommt, in dieser Beziehung in der
Regel das Gefühl der Inferiorität, wozu sonst durchaus keine Veranlassung
wäre; und das treibt ihn zuweilen zu Sprüngen in der Entwicklung, die nichts
Gesundes haben. Mit einiger Verwunderung haben wir bemerkt, daß der Ein¬
fluß der jüngeren radicalen Hegelschen Philosophie in diesem Augenblick in
manchen Kreisen Oestreichs wirksamer ist, als anderwärts in Deutschland, ob¬
gleich, oder vielmehr, weil er durch gar keine verbindenden Mittelglieder herbei¬
geführt ist. Eine gesunde historisch-philologische Bildung, wie sie auf den deut¬
schen Gymnasien besteht, würde viel nützlicher sein, als diese verstreuten Brocken
einer halbverstandenen Philosophie.

Wenn nun der Staat eine Reform des Erziehungswesens ernstlich wollte,
so müßte er sich zu einem Mittel entscheiden, das vielen Anstoß erregen würde,
das aber unvermeidlich ist, nämlich zu einem massenhaften Hereinziehen fremder
Kräfte. Preußen hat dadurch einen großen Theil seiner besten Männer gewon¬
nen, ja noch mehr, einen großen Theil seiner wärmsten und leidenschaftlichsten
Patrioten. Warum sollte es mit Oestreich nicht derselbe Fall sein? Nur muß
es sein Augenmerk nicht auf die sogenannten Geistreichen richten, auf die Rene¬
gaten, die durch sophistische Ueberbildung zuletzt dahin gekommen sind, sich kopf-


Sprache durch das Gesetz der Attraction immer weiter ausbreiten, und ohne
gewaltsame Mittel wird der Kaiserstaat in seinen wirklich politischen Elementen
ein deutscher werden.

Mit diesem Punkt hängt die zweite Reform zusammen, die wir als noth¬
wendig bezeichnet haben, nämlich die Reform der Erziehung. Wir meinen da¬
mit, da wir hier nur einen ganz bestimmten Zweck im Auge haben, nicht die
eigentliche Volkserziehung, die in mancher Beziehung freilich viel wichtiger ist,
als das Schulwesen der gebildeten Classen, sondern wir meinen die höheren
Lehranstalten, die Gymnasien und Universitäten. Daß Oestreich in diesen Be¬
ziehungen soweit hinter dem übrigen Deutschland zurückgeblieben ist, hat einen
unheilvollen Einfluß auch auf seine politische Entwicklung ausgeübt. In Preu¬
ßen geht aus den Gymnasien und Universitäten jeder, der sich die ihm ge¬
botene Bildung wirklich aneignet, als preußischer Patriot und als Eiferer für
den Protestantismus hervor (was freilich nicht soviel heißen soll, als Begei-
sterung für den Herrn von Manteuffel und den Herrn Professor Hengstenberg);
in Oestreich dagegen, wo die Erziehung in den Händen der Geistlichen ist, wird
derjenige Theil der Mittelclassen, der sich nicht knechten läßt (in welchem Falle
er wieder für die höheren Staatszwecke unbrauchbar wäre), als ein Gegner der
bestehenden Staats- und Religionsansichten hervorgehen. Die Aristokratie trifft
dies weniger, weil sie in der Regel eine Privaterziehung genießt; aber grade
dieser Widerspruch in der aristokratischen und bürgerlichen Bildung ist sehr ge¬
fährlich für die nationale Entwicklung. Daneben hat der gebildete Oestreicher,
der mit dem deutschen Ausländer zusammenkommt, in dieser Beziehung in der
Regel das Gefühl der Inferiorität, wozu sonst durchaus keine Veranlassung
wäre; und das treibt ihn zuweilen zu Sprüngen in der Entwicklung, die nichts
Gesundes haben. Mit einiger Verwunderung haben wir bemerkt, daß der Ein¬
fluß der jüngeren radicalen Hegelschen Philosophie in diesem Augenblick in
manchen Kreisen Oestreichs wirksamer ist, als anderwärts in Deutschland, ob¬
gleich, oder vielmehr, weil er durch gar keine verbindenden Mittelglieder herbei¬
geführt ist. Eine gesunde historisch-philologische Bildung, wie sie auf den deut¬
schen Gymnasien besteht, würde viel nützlicher sein, als diese verstreuten Brocken
einer halbverstandenen Philosophie.

Wenn nun der Staat eine Reform des Erziehungswesens ernstlich wollte,
so müßte er sich zu einem Mittel entscheiden, das vielen Anstoß erregen würde,
das aber unvermeidlich ist, nämlich zu einem massenhaften Hereinziehen fremder
Kräfte. Preußen hat dadurch einen großen Theil seiner besten Männer gewon¬
nen, ja noch mehr, einen großen Theil seiner wärmsten und leidenschaftlichsten
Patrioten. Warum sollte es mit Oestreich nicht derselbe Fall sein? Nur muß
es sein Augenmerk nicht auf die sogenannten Geistreichen richten, auf die Rene¬
gaten, die durch sophistische Ueberbildung zuletzt dahin gekommen sind, sich kopf-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/453>, abgerufen am 25.08.2024.