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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

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schwendet, die ihnen nicht augenblicklich Gelegenheit zu einem neuen Epigramm,
zu einem neuen pathetischen Nein gibt, die sie nicht zu einem augenblicklichen
Eindruck auf das Publicum verwerthen können. Was haben nicht dagegen Goethe
und Schiller an sich selbst gearbeitet, ohne vorher daran zu denken, an welcher
Stelle sie jede einzelne Frucht ihrer Lectüre anbringen sollten! Man hat über
Schillers historische Arbeiten gespottet; wer aber bei Wallenstein oder bei
Wilhelm Teil daran zweifeln kann, daß Schillers historische Anschauung weit
reicher und voller war, als die der meisten Historiker, für den ist Poesie über¬
haupt nicht geschrieben. Man hat über Schillers philosophische Studien ge¬
spottet, und gewiß haben sie seine Technik nicht grade unterstützt; aber durch
, sie hat er jene Reife erlangt, die seine Werke den spätern Jahrhunderten werth
machen wird, während die modernen Dichter, welche Philosophie und Geschichte
nicht studiren, sondern einige Phrasen daraus auswendig lernen, um der un¬
wissenden Menge zu imponiren (z. B. "Der Mensch ist Gott :c."), in zehn
Jahren vergessen sein werden, weil ihr ganzer Neiz im Reiz der Neuheit liegt.
Goethe hat, wenn auch nach einer andern Seite hin, ebenso tiefe philosophische
Studien gemacht, als Schiller, und wenn ihm dabei die Geschichte fremder
blieb, so hat er dafür an der Naturwissenschaft und der plastischen Kunst seinen
Geist gebildet, nicht, wie es wol heutzutage geschieht, daß man die Dresdner
Galerie durchläuft und sich merkt, daß die Sirtinische.Madonna seelenvolle
Augen habe, daß Rembrandt am braunen Colorit zu erkennen sei, Rubens an
seinem gesunden Fleisch u. s. w., sondern wie der Schüler studirt, der Meister
werden will.

Die Dichtkunst wird nicht eher wieder bei uns aufblühen, bis es unsre
jungen Talente ebenso machen, wie Goethe und Schiller. Die Formgeschicklich-
keit an sich hilft noch nichts, wenn man nicht einen positiven Inhalt zu bieten
hat. Es ist mit der Kunst grade wie mit der Wissenschaft. Sowie der Ge¬
lehrte nur denjenigen Stoff zur Befriedigung der Kenner bearbeiten wird, den
er vollkommen beherrscht, so wird der Künstler nur dasjenige darstellen können,
was er nach allen Seiten hin durchfühlt und durchdacht hat. Wenn sich der
Dichter ein Problem setzt, von dem er nichts weiß, als einige Stichwörter, so
wird er vielleicht für den Augenblick die unwissende Menge täuschen, aber eine
schnelle Vergessenheit wird sein verdienter Lohn sein.

. Eine zweite nothwendige Vorbildung des Dichters ist, daß er lebt. Die
meisten unsrer Dichter führen nur ein Scheinleben. Abgesehn von kleinen
Liebesintriguen, bei denen meistens die Reminiscenz maßgebend ist, und, etwa
einer Reise nach Paris, wo sie an jedem Ort, vom Hotel de ville bis zum
Pere la Chaise, die hergebrachten Empfindungen haben, die im Reisehandbuch
verzeichnet sind, zeigen sie sich der Gesellschaft nur in der Dichterpositur. Sie
empfangen für die Declammion ihrer Verse bei der Theegesellschaft das ge-


Grenzbotcn. IV. -I8si. 52

schwendet, die ihnen nicht augenblicklich Gelegenheit zu einem neuen Epigramm,
zu einem neuen pathetischen Nein gibt, die sie nicht zu einem augenblicklichen
Eindruck auf das Publicum verwerthen können. Was haben nicht dagegen Goethe
und Schiller an sich selbst gearbeitet, ohne vorher daran zu denken, an welcher
Stelle sie jede einzelne Frucht ihrer Lectüre anbringen sollten! Man hat über
Schillers historische Arbeiten gespottet; wer aber bei Wallenstein oder bei
Wilhelm Teil daran zweifeln kann, daß Schillers historische Anschauung weit
reicher und voller war, als die der meisten Historiker, für den ist Poesie über¬
haupt nicht geschrieben. Man hat über Schillers philosophische Studien ge¬
spottet, und gewiß haben sie seine Technik nicht grade unterstützt; aber durch
, sie hat er jene Reife erlangt, die seine Werke den spätern Jahrhunderten werth
machen wird, während die modernen Dichter, welche Philosophie und Geschichte
nicht studiren, sondern einige Phrasen daraus auswendig lernen, um der un¬
wissenden Menge zu imponiren (z. B. „Der Mensch ist Gott :c."), in zehn
Jahren vergessen sein werden, weil ihr ganzer Neiz im Reiz der Neuheit liegt.
Goethe hat, wenn auch nach einer andern Seite hin, ebenso tiefe philosophische
Studien gemacht, als Schiller, und wenn ihm dabei die Geschichte fremder
blieb, so hat er dafür an der Naturwissenschaft und der plastischen Kunst seinen
Geist gebildet, nicht, wie es wol heutzutage geschieht, daß man die Dresdner
Galerie durchläuft und sich merkt, daß die Sirtinische.Madonna seelenvolle
Augen habe, daß Rembrandt am braunen Colorit zu erkennen sei, Rubens an
seinem gesunden Fleisch u. s. w., sondern wie der Schüler studirt, der Meister
werden will.

Die Dichtkunst wird nicht eher wieder bei uns aufblühen, bis es unsre
jungen Talente ebenso machen, wie Goethe und Schiller. Die Formgeschicklich-
keit an sich hilft noch nichts, wenn man nicht einen positiven Inhalt zu bieten
hat. Es ist mit der Kunst grade wie mit der Wissenschaft. Sowie der Ge¬
lehrte nur denjenigen Stoff zur Befriedigung der Kenner bearbeiten wird, den
er vollkommen beherrscht, so wird der Künstler nur dasjenige darstellen können,
was er nach allen Seiten hin durchfühlt und durchdacht hat. Wenn sich der
Dichter ein Problem setzt, von dem er nichts weiß, als einige Stichwörter, so
wird er vielleicht für den Augenblick die unwissende Menge täuschen, aber eine
schnelle Vergessenheit wird sein verdienter Lohn sein.

. Eine zweite nothwendige Vorbildung des Dichters ist, daß er lebt. Die
meisten unsrer Dichter führen nur ein Scheinleben. Abgesehn von kleinen
Liebesintriguen, bei denen meistens die Reminiscenz maßgebend ist, und, etwa
einer Reise nach Paris, wo sie an jedem Ort, vom Hotel de ville bis zum
Pere la Chaise, die hergebrachten Empfindungen haben, die im Reisehandbuch
verzeichnet sind, zeigen sie sich der Gesellschaft nur in der Dichterpositur. Sie
empfangen für die Declammion ihrer Verse bei der Theegesellschaft das ge-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/417>, abgerufen am 24.08.2024.