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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

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Bei all der Aufregung, die hier herrscht und der sich kein Mensch, wenn
er nicht grade ein Vieh ist, entziehen kann, verzweifelt kein eingeborner Brite
bis zur Stunde an dem endlichen Fall Sebastopols, an dem Sieg der Ver¬
bündeten. Wir andern, die wir unter diesem mit wunderbarer Zuversicht be¬
gabten Volke leben, werden von dieser Tugend nur allmälig angesteckt. Des
Deutschen Unglück wars ja seit lange, daß er seine Kraft zu bescheiden ab¬
schätzte. Und da stehen wir' hier mitten in einem Volke, das eine Niederlage
seiner Kinder sür eine baare Unmöglichkeit hält. An diesen Sprung gewöhnt
man sich nur langsam. Manchmal kommt uns dieses kolossale Selbstvertrauen
wie eine Fanfaronade vor. Aber der Engländer ist kein Fanfaron. Er ist
ein gläubiger Anbeter feiner Macht ohne Spur von Heuchelei dabei. In den
letzten Tagen freilich hat sich auch sein arithmetischer Verstand Geltung ver¬
schafft. Wenn jeder glorreiche Sieg S000 Menschen kostet, so folgt daraus,
daß von 30,000 nach sechs Siegen keiner übrigbleibt, um Hurrah zu rufen.
Dieses Ncchcnerempel ist zu einfach, als daß der große Allerweltsrechner John
Bull es nicht fassen sollte. Schade nur, daß seine zweite Vorsehung, die ihn
so viel Geld kostet, daß seine Negierung es nicht früher begriff. Sie hätte
viele brave Leute von der vorzeitigen Unsterblichkeit gerettet. Ich möchte eben
so wenig jetzt Herzog von Newcastle als -- -- -- heißen. Sie haben beide
ein paar tausend Seelen auf ihrem Gewissen. Der eine verfolgt wenigstens
eine großartige Idee, die sich ohne Menschenhekatomben nicht gut ausführen
ließ. Beim edlen Herzog aber ist Kleinlichkeit, Knauserei oder, was das
wahrscheinlichste ist, Unkenntniß der Verhältnisse zu Hause. Jetzt in der vor¬
letzten Stunde schickt er Verstärkungen, aber auch jetzt noch mit einer Spar¬
samkeit, die dem Drange der Lage nicht angemessen ist. Für jede Stunde,
die .vertrödelt wird, zahlen in der Krim Dutzende mit ihrem Leben- das ist
unverantwortlich. Man sage ja nicht, die Negierung könne im Augenblick
nicht mehr thun als sie nothgedrungen thut. Das ist nicht wahr. England
kann alles was es will; kann in 8 Tagen hundert Dampfer wegschicken, und
auf diesen 30,000 Mann, die im Lande stehen. Wer braucht sie? Was sollen sie
hier? Man lasse soviele zurück, um die neuausgehobenen Rekruten einzuerer-
ciren. Die Anderen mögen ihren Brüdern zu Hilfe ziehen. Es gibt hier
keine Spießbürgerfurcht, die Soldaten sehen muß, um sich ruhig zu Bette zu
legen; und wenn vor Buckinghampalace ein paar Schildwachen weniger Paradiren,
so wird Frau Victoria es nicht übel nehmen.

Frau Victoria ist eine kluge liebe Königin. Lesen Sie den sogenannten
Armeebefehl, den sie den Truppen nach der Almaschlacht zugeschickt hat. Er
ist musterhaft geschrieben. Von einem Befehl ist darin freilich keine Rede-
Nur vom Dank und Anerkennung für die Leistungen jenes Tages. Und wie
zart, wie liebenswürdig ist jedes Wort! Der Armeebefehl eines behosten Königs


Bei all der Aufregung, die hier herrscht und der sich kein Mensch, wenn
er nicht grade ein Vieh ist, entziehen kann, verzweifelt kein eingeborner Brite
bis zur Stunde an dem endlichen Fall Sebastopols, an dem Sieg der Ver¬
bündeten. Wir andern, die wir unter diesem mit wunderbarer Zuversicht be¬
gabten Volke leben, werden von dieser Tugend nur allmälig angesteckt. Des
Deutschen Unglück wars ja seit lange, daß er seine Kraft zu bescheiden ab¬
schätzte. Und da stehen wir' hier mitten in einem Volke, das eine Niederlage
seiner Kinder sür eine baare Unmöglichkeit hält. An diesen Sprung gewöhnt
man sich nur langsam. Manchmal kommt uns dieses kolossale Selbstvertrauen
wie eine Fanfaronade vor. Aber der Engländer ist kein Fanfaron. Er ist
ein gläubiger Anbeter feiner Macht ohne Spur von Heuchelei dabei. In den
letzten Tagen freilich hat sich auch sein arithmetischer Verstand Geltung ver¬
schafft. Wenn jeder glorreiche Sieg S000 Menschen kostet, so folgt daraus,
daß von 30,000 nach sechs Siegen keiner übrigbleibt, um Hurrah zu rufen.
Dieses Ncchcnerempel ist zu einfach, als daß der große Allerweltsrechner John
Bull es nicht fassen sollte. Schade nur, daß seine zweite Vorsehung, die ihn
so viel Geld kostet, daß seine Negierung es nicht früher begriff. Sie hätte
viele brave Leute von der vorzeitigen Unsterblichkeit gerettet. Ich möchte eben
so wenig jetzt Herzog von Newcastle als — — — heißen. Sie haben beide
ein paar tausend Seelen auf ihrem Gewissen. Der eine verfolgt wenigstens
eine großartige Idee, die sich ohne Menschenhekatomben nicht gut ausführen
ließ. Beim edlen Herzog aber ist Kleinlichkeit, Knauserei oder, was das
wahrscheinlichste ist, Unkenntniß der Verhältnisse zu Hause. Jetzt in der vor¬
letzten Stunde schickt er Verstärkungen, aber auch jetzt noch mit einer Spar¬
samkeit, die dem Drange der Lage nicht angemessen ist. Für jede Stunde,
die .vertrödelt wird, zahlen in der Krim Dutzende mit ihrem Leben- das ist
unverantwortlich. Man sage ja nicht, die Negierung könne im Augenblick
nicht mehr thun als sie nothgedrungen thut. Das ist nicht wahr. England
kann alles was es will; kann in 8 Tagen hundert Dampfer wegschicken, und
auf diesen 30,000 Mann, die im Lande stehen. Wer braucht sie? Was sollen sie
hier? Man lasse soviele zurück, um die neuausgehobenen Rekruten einzuerer-
ciren. Die Anderen mögen ihren Brüdern zu Hilfe ziehen. Es gibt hier
keine Spießbürgerfurcht, die Soldaten sehen muß, um sich ruhig zu Bette zu
legen; und wenn vor Buckinghampalace ein paar Schildwachen weniger Paradiren,
so wird Frau Victoria es nicht übel nehmen.

Frau Victoria ist eine kluge liebe Königin. Lesen Sie den sogenannten
Armeebefehl, den sie den Truppen nach der Almaschlacht zugeschickt hat. Er
ist musterhaft geschrieben. Von einem Befehl ist darin freilich keine Rede-
Nur vom Dank und Anerkennung für die Leistungen jenes Tages. Und wie
zart, wie liebenswürdig ist jedes Wort! Der Armeebefehl eines behosten Königs


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/400>, abgerufen am 22.07.2024.