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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

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verschwanden seitdem. Man sagte mir, daß die Gesellschaft nicht ihre Rechnung
gefunden habe, was ganz unbegreiflich erscheint, da das Haus meistens sehr
besucht gewesen sein soll.

Es ist höchst ergötzlich, ein hiesiges Parterre zu beobachten. Bunter ge¬
mischt mag sich kaum ein andres auf dem Erdenrund finden. Die Orien¬
talen lieben das Schauspiel wie Musik und Gesang ungemein, und nehmen
mit jener ungebrochenen Naivetät Antheil an der scenischen Entwicklung, welche
nur die Halbcultivirten bewahrt zu haben scheinen. Von künstlerischem Ver-
ständniß ist natürlich keine Spur bei ihnen vorhanden, und ihr Begriffsver¬
mögen von der Sache reducirt sich beim Drama auf die Auffassung der in der
Handlung zur Darstellung gebrachten Charaktere; um den Dialog gründlich
zu bessern, ermangeln sie meistens der sprachlichen Kenntnisse.

Man schiffte heute Nachmittag wieder Verwundete aus, die vom Schlacht¬
feld von Jnkerman ausgenommen und hierher gesendet wurden: Engländer,
Franzosen und Russen. Die Schlacht selbst (gekämpft am ü. November) wird
Ihnen längst bekannt sein und auch ein Bericht über ihre Hauptzüge dürfte
Ihnen beim Anlangen dieser Zeilen (über Paris und London) nicht mehr
fehlen. Sie war eine der blutigsten nicht nur unsrer Tage, sondern des Jahr¬
hunderts, und man kann sie dreist den gewaltigen Kämpfen des ersten französischen
Kaiserreichs zur Seite stellen. Engländer und Franzosen scheinen gleich zahl¬
reich am Ende des Tages dabei engagirt gewesen zu sein; aber am Vormittag
wurde das Terrain mehre Stunden hindurch von 4000 Mann britischer Truppen
allein vertheidigt, die während dieser Zeit, unter des tapfern Cathcart Führung,
Wunder des Heldenmuthes verrichteten. Leider gehörte er zu denen, die mit
ihrem Leichnam die Wahlstatt decken sollten. Die Franzosen kamen, wie schon
einmal, nicht ganz zur rechten Zeit, sondern etwas verspätet. Uebrigens befand
sich letztlich General Canrobert, der Höchstcommandirende, selbst im Treffen.
Ihm wurde ein Pferd unter dem Leibe erschossen; eine Kugel zerriß ihm die
Epaulette; mehre andre durchlöcherten den Sürtout. Dieser brillante Soldat
war allenthalben, wo die höchste Gefahr seine Gegenwart erheischte, indeß
weiß ich nicht, ob seine taktischen Dispositionen in dieser Schlacht besser ge¬
troffen waren als die des weiland Marschall Se. Arnaud an der Alma.
Gefangene scheint man nur wenige gemacht zu haben; auch wurde der Feind
nicht verfolgt, sondern man gestattete ihm, beinahe unangefochten in seine
Positionen zurückzukehren. Sein Verlust wird auf achttausend Mann an
Todten und Verwundeten geschätzt.

Der Zweck des russischen Angriffs auf den englischen äußersten Flügel¬
punkt bei Jnkerman wird von einigen daraus gedeutet, daß man damit das


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verschwanden seitdem. Man sagte mir, daß die Gesellschaft nicht ihre Rechnung
gefunden habe, was ganz unbegreiflich erscheint, da das Haus meistens sehr
besucht gewesen sein soll.

Es ist höchst ergötzlich, ein hiesiges Parterre zu beobachten. Bunter ge¬
mischt mag sich kaum ein andres auf dem Erdenrund finden. Die Orien¬
talen lieben das Schauspiel wie Musik und Gesang ungemein, und nehmen
mit jener ungebrochenen Naivetät Antheil an der scenischen Entwicklung, welche
nur die Halbcultivirten bewahrt zu haben scheinen. Von künstlerischem Ver-
ständniß ist natürlich keine Spur bei ihnen vorhanden, und ihr Begriffsver¬
mögen von der Sache reducirt sich beim Drama auf die Auffassung der in der
Handlung zur Darstellung gebrachten Charaktere; um den Dialog gründlich
zu bessern, ermangeln sie meistens der sprachlichen Kenntnisse.

Man schiffte heute Nachmittag wieder Verwundete aus, die vom Schlacht¬
feld von Jnkerman ausgenommen und hierher gesendet wurden: Engländer,
Franzosen und Russen. Die Schlacht selbst (gekämpft am ü. November) wird
Ihnen längst bekannt sein und auch ein Bericht über ihre Hauptzüge dürfte
Ihnen beim Anlangen dieser Zeilen (über Paris und London) nicht mehr
fehlen. Sie war eine der blutigsten nicht nur unsrer Tage, sondern des Jahr¬
hunderts, und man kann sie dreist den gewaltigen Kämpfen des ersten französischen
Kaiserreichs zur Seite stellen. Engländer und Franzosen scheinen gleich zahl¬
reich am Ende des Tages dabei engagirt gewesen zu sein; aber am Vormittag
wurde das Terrain mehre Stunden hindurch von 4000 Mann britischer Truppen
allein vertheidigt, die während dieser Zeit, unter des tapfern Cathcart Führung,
Wunder des Heldenmuthes verrichteten. Leider gehörte er zu denen, die mit
ihrem Leichnam die Wahlstatt decken sollten. Die Franzosen kamen, wie schon
einmal, nicht ganz zur rechten Zeit, sondern etwas verspätet. Uebrigens befand
sich letztlich General Canrobert, der Höchstcommandirende, selbst im Treffen.
Ihm wurde ein Pferd unter dem Leibe erschossen; eine Kugel zerriß ihm die
Epaulette; mehre andre durchlöcherten den Sürtout. Dieser brillante Soldat
war allenthalben, wo die höchste Gefahr seine Gegenwart erheischte, indeß
weiß ich nicht, ob seine taktischen Dispositionen in dieser Schlacht besser ge¬
troffen waren als die des weiland Marschall Se. Arnaud an der Alma.
Gefangene scheint man nur wenige gemacht zu haben; auch wurde der Feind
nicht verfolgt, sondern man gestattete ihm, beinahe unangefochten in seine
Positionen zurückzukehren. Sein Verlust wird auf achttausend Mann an
Todten und Verwundeten geschätzt.

Der Zweck des russischen Angriffs auf den englischen äußersten Flügel¬
punkt bei Jnkerman wird von einigen daraus gedeutet, daß man damit das


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[0385] verschwanden seitdem. Man sagte mir, daß die Gesellschaft nicht ihre Rechnung gefunden habe, was ganz unbegreiflich erscheint, da das Haus meistens sehr besucht gewesen sein soll. Es ist höchst ergötzlich, ein hiesiges Parterre zu beobachten. Bunter ge¬ mischt mag sich kaum ein andres auf dem Erdenrund finden. Die Orien¬ talen lieben das Schauspiel wie Musik und Gesang ungemein, und nehmen mit jener ungebrochenen Naivetät Antheil an der scenischen Entwicklung, welche nur die Halbcultivirten bewahrt zu haben scheinen. Von künstlerischem Ver- ständniß ist natürlich keine Spur bei ihnen vorhanden, und ihr Begriffsver¬ mögen von der Sache reducirt sich beim Drama auf die Auffassung der in der Handlung zur Darstellung gebrachten Charaktere; um den Dialog gründlich zu bessern, ermangeln sie meistens der sprachlichen Kenntnisse. Man schiffte heute Nachmittag wieder Verwundete aus, die vom Schlacht¬ feld von Jnkerman ausgenommen und hierher gesendet wurden: Engländer, Franzosen und Russen. Die Schlacht selbst (gekämpft am ü. November) wird Ihnen längst bekannt sein und auch ein Bericht über ihre Hauptzüge dürfte Ihnen beim Anlangen dieser Zeilen (über Paris und London) nicht mehr fehlen. Sie war eine der blutigsten nicht nur unsrer Tage, sondern des Jahr¬ hunderts, und man kann sie dreist den gewaltigen Kämpfen des ersten französischen Kaiserreichs zur Seite stellen. Engländer und Franzosen scheinen gleich zahl¬ reich am Ende des Tages dabei engagirt gewesen zu sein; aber am Vormittag wurde das Terrain mehre Stunden hindurch von 4000 Mann britischer Truppen allein vertheidigt, die während dieser Zeit, unter des tapfern Cathcart Führung, Wunder des Heldenmuthes verrichteten. Leider gehörte er zu denen, die mit ihrem Leichnam die Wahlstatt decken sollten. Die Franzosen kamen, wie schon einmal, nicht ganz zur rechten Zeit, sondern etwas verspätet. Uebrigens befand sich letztlich General Canrobert, der Höchstcommandirende, selbst im Treffen. Ihm wurde ein Pferd unter dem Leibe erschossen; eine Kugel zerriß ihm die Epaulette; mehre andre durchlöcherten den Sürtout. Dieser brillante Soldat war allenthalben, wo die höchste Gefahr seine Gegenwart erheischte, indeß weiß ich nicht, ob seine taktischen Dispositionen in dieser Schlacht besser ge¬ troffen waren als die des weiland Marschall Se. Arnaud an der Alma. Gefangene scheint man nur wenige gemacht zu haben; auch wurde der Feind nicht verfolgt, sondern man gestattete ihm, beinahe unangefochten in seine Positionen zurückzukehren. Sein Verlust wird auf achttausend Mann an Todten und Verwundeten geschätzt. Der Zweck des russischen Angriffs auf den englischen äußersten Flügel¬ punkt bei Jnkerman wird von einigen daraus gedeutet, daß man damit das Grenzboten. IV. -I8si-. 48

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/385>, abgerufen am 22.07.2024.