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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

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Rußland fällt, fühlen sie tausendfach mit; aber dafür fliegt auch keine Kugel
aus einem russischen Feuerrohr, in der sie nicht- einen Sendling ihres eignen
Haß- und Rachegcfühlö erkennen. Kein Wunder, wenn ein momentanes Un¬
behagen aus unsrer Seite infolge ausbleibender cracker Nachrichten ihrer¬
seits hundert Hoffnungen Raum gibt, und die immer redefcrtigen Zungen in
solchen Pausen'nicht müde werden, die, unheimlichsten Vorkommnisse zu ver¬
künden oder als nahe bevorstehend anzuzeigen. Dürfte die Stimmung der
griechischen Bevölkerung Stambuls sich ungehindert in einem Preßorgane Lust
machen, so würde man darin aller Wahrscheinlichkeit nach das schroffste Ge¬
genstück zu dem halbofficiellen Journal de Constantinople erhalten, das immer
nur gedacht werden könnte, und es müßte ein nicht reizloser Zeitvertreib sein,
zu gewissen Zeiten beide Blätter in Bezug auf die gemeldeten Thatsachen und
sich daran knüpfenden Betrachtungen zu vergleichen.

Die Stimmung der Rajahs im türkischen Reiche wird selten richtig dar¬
gestellt oder in folgerechter Weise auf die ihr näherliegenden Motive zurückge¬
führt. Die einen unter denen, welche sich über diese wichtige Frage äußerten,
unterscheiden zu wenig zwischen Griechen, Armeniern und Slawen und zwi¬
schen den verschiedenen Principien, welche diesen Nationalitäten als Kern ein¬
geboren sind; die anderen verkennen ganz, daß sie bei aller Verschiedenheit
dennoch manchen gemeinsamen Zug bewahre", manche Eigenschaft, die allen
gleichmäßig zukommt und die unter dem Zwang und Druck der gleichartigen
Verhältnisse entstanden sein mag, in welchen sie seit Jahrhunderten sich befinden.

Die Abneigung gegen die Türken, ihre vormaligen Unterjocher und der¬
zeitigen Herrn -- denn die Aenderung dieses Verhältnisses ist erst im Werden
begriffen -- ist allen gemeinsam, nur daß sie bei dem Griechen eine andere'
Form annimmt, wie bei dem. Armenier und Slawen. Alle sind außerdem
durch den lcmgdau-enden Druck demoralisier, zu unterwürfigen Sklaven gemacht,
deren Zorn sich im Inneren verbergen muss und die sich in die Umstände schi¬
cken, weil sie dazu gezwungen sind; wenn ihnen nach und nach mehr Freiheits¬
zugeständnisse zu Theil wurden, und im besonderen die Lage der Griechen im
osmanischen Reich mit der vor dreißig Jahren kaum mehr verglichen werden
kann, so steigerte sich damit auch zugleich das Bewußtsein ihrer Menschen¬
rechte und infolge dessen -das Majz ihrer Ansprüche und Erwartungen.
Diese Steigerung hat beim slawischen Bulgaren so gut stattgefunden wie beim
rumelischen Griechen und beim Armenier. Daher die verhältnißmäßig ge¬
ringe Anerkennung, ,welche die segensvollen Reformen der Regierungszeit
Abdul Medschids, grade bei denen gefunden, deren Interessen am meisten da¬
durch gefördert wurden. ES wäre ebenso falsch zu sagen, daß seither das Tan-
simat ein leeres Wort geblieben sei, als wenn man behaupten wollte, es sei
bis ins kleinste Detail zur Ausführung gekommen. Aber jene erstere Abur-


Rußland fällt, fühlen sie tausendfach mit; aber dafür fliegt auch keine Kugel
aus einem russischen Feuerrohr, in der sie nicht- einen Sendling ihres eignen
Haß- und Rachegcfühlö erkennen. Kein Wunder, wenn ein momentanes Un¬
behagen aus unsrer Seite infolge ausbleibender cracker Nachrichten ihrer¬
seits hundert Hoffnungen Raum gibt, und die immer redefcrtigen Zungen in
solchen Pausen'nicht müde werden, die, unheimlichsten Vorkommnisse zu ver¬
künden oder als nahe bevorstehend anzuzeigen. Dürfte die Stimmung der
griechischen Bevölkerung Stambuls sich ungehindert in einem Preßorgane Lust
machen, so würde man darin aller Wahrscheinlichkeit nach das schroffste Ge¬
genstück zu dem halbofficiellen Journal de Constantinople erhalten, das immer
nur gedacht werden könnte, und es müßte ein nicht reizloser Zeitvertreib sein,
zu gewissen Zeiten beide Blätter in Bezug auf die gemeldeten Thatsachen und
sich daran knüpfenden Betrachtungen zu vergleichen.

Die Stimmung der Rajahs im türkischen Reiche wird selten richtig dar¬
gestellt oder in folgerechter Weise auf die ihr näherliegenden Motive zurückge¬
führt. Die einen unter denen, welche sich über diese wichtige Frage äußerten,
unterscheiden zu wenig zwischen Griechen, Armeniern und Slawen und zwi¬
schen den verschiedenen Principien, welche diesen Nationalitäten als Kern ein¬
geboren sind; die anderen verkennen ganz, daß sie bei aller Verschiedenheit
dennoch manchen gemeinsamen Zug bewahre», manche Eigenschaft, die allen
gleichmäßig zukommt und die unter dem Zwang und Druck der gleichartigen
Verhältnisse entstanden sein mag, in welchen sie seit Jahrhunderten sich befinden.

Die Abneigung gegen die Türken, ihre vormaligen Unterjocher und der¬
zeitigen Herrn — denn die Aenderung dieses Verhältnisses ist erst im Werden
begriffen — ist allen gemeinsam, nur daß sie bei dem Griechen eine andere'
Form annimmt, wie bei dem. Armenier und Slawen. Alle sind außerdem
durch den lcmgdau-enden Druck demoralisier, zu unterwürfigen Sklaven gemacht,
deren Zorn sich im Inneren verbergen muss und die sich in die Umstände schi¬
cken, weil sie dazu gezwungen sind; wenn ihnen nach und nach mehr Freiheits¬
zugeständnisse zu Theil wurden, und im besonderen die Lage der Griechen im
osmanischen Reich mit der vor dreißig Jahren kaum mehr verglichen werden
kann, so steigerte sich damit auch zugleich das Bewußtsein ihrer Menschen¬
rechte und infolge dessen -das Majz ihrer Ansprüche und Erwartungen.
Diese Steigerung hat beim slawischen Bulgaren so gut stattgefunden wie beim
rumelischen Griechen und beim Armenier. Daher die verhältnißmäßig ge¬
ringe Anerkennung, ,welche die segensvollen Reformen der Regierungszeit
Abdul Medschids, grade bei denen gefunden, deren Interessen am meisten da¬
durch gefördert wurden. ES wäre ebenso falsch zu sagen, daß seither das Tan-
simat ein leeres Wort geblieben sei, als wenn man behaupten wollte, es sei
bis ins kleinste Detail zur Ausführung gekommen. Aber jene erstere Abur-


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[0319] Rußland fällt, fühlen sie tausendfach mit; aber dafür fliegt auch keine Kugel aus einem russischen Feuerrohr, in der sie nicht- einen Sendling ihres eignen Haß- und Rachegcfühlö erkennen. Kein Wunder, wenn ein momentanes Un¬ behagen aus unsrer Seite infolge ausbleibender cracker Nachrichten ihrer¬ seits hundert Hoffnungen Raum gibt, und die immer redefcrtigen Zungen in solchen Pausen'nicht müde werden, die, unheimlichsten Vorkommnisse zu ver¬ künden oder als nahe bevorstehend anzuzeigen. Dürfte die Stimmung der griechischen Bevölkerung Stambuls sich ungehindert in einem Preßorgane Lust machen, so würde man darin aller Wahrscheinlichkeit nach das schroffste Ge¬ genstück zu dem halbofficiellen Journal de Constantinople erhalten, das immer nur gedacht werden könnte, und es müßte ein nicht reizloser Zeitvertreib sein, zu gewissen Zeiten beide Blätter in Bezug auf die gemeldeten Thatsachen und sich daran knüpfenden Betrachtungen zu vergleichen. Die Stimmung der Rajahs im türkischen Reiche wird selten richtig dar¬ gestellt oder in folgerechter Weise auf die ihr näherliegenden Motive zurückge¬ führt. Die einen unter denen, welche sich über diese wichtige Frage äußerten, unterscheiden zu wenig zwischen Griechen, Armeniern und Slawen und zwi¬ schen den verschiedenen Principien, welche diesen Nationalitäten als Kern ein¬ geboren sind; die anderen verkennen ganz, daß sie bei aller Verschiedenheit dennoch manchen gemeinsamen Zug bewahre», manche Eigenschaft, die allen gleichmäßig zukommt und die unter dem Zwang und Druck der gleichartigen Verhältnisse entstanden sein mag, in welchen sie seit Jahrhunderten sich befinden. Die Abneigung gegen die Türken, ihre vormaligen Unterjocher und der¬ zeitigen Herrn — denn die Aenderung dieses Verhältnisses ist erst im Werden begriffen — ist allen gemeinsam, nur daß sie bei dem Griechen eine andere' Form annimmt, wie bei dem. Armenier und Slawen. Alle sind außerdem durch den lcmgdau-enden Druck demoralisier, zu unterwürfigen Sklaven gemacht, deren Zorn sich im Inneren verbergen muss und die sich in die Umstände schi¬ cken, weil sie dazu gezwungen sind; wenn ihnen nach und nach mehr Freiheits¬ zugeständnisse zu Theil wurden, und im besonderen die Lage der Griechen im osmanischen Reich mit der vor dreißig Jahren kaum mehr verglichen werden kann, so steigerte sich damit auch zugleich das Bewußtsein ihrer Menschen¬ rechte und infolge dessen -das Majz ihrer Ansprüche und Erwartungen. Diese Steigerung hat beim slawischen Bulgaren so gut stattgefunden wie beim rumelischen Griechen und beim Armenier. Daher die verhältnißmäßig ge¬ ringe Anerkennung, ,welche die segensvollen Reformen der Regierungszeit Abdul Medschids, grade bei denen gefunden, deren Interessen am meisten da¬ durch gefördert wurden. ES wäre ebenso falsch zu sagen, daß seither das Tan- simat ein leeres Wort geblieben sei, als wenn man behaupten wollte, es sei bis ins kleinste Detail zur Ausführung gekommen. Aber jene erstere Abur-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/319>, abgerufen am 25.08.2024.