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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

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Der Augenblick scheint nahe, wo der deutsche Kaiserstaat als Seemacht auf dem
Pontus auftreten, und gleichwie heute zu Lande, so dann auch zur See, den
Flankenschutz der türkischen Lande gegen Rußland allein auf sich nehmen wird.

Ich hatte zu früh über den mit so heiteren, sonnigen Tagen beginnenden
Spätherbst triumphirt; seit gestern Abend ist ein plötzlicher Wechsel in der
Witterung eingetreten; aus dem Bospor stiegen dichte, feuchte Nebel auf und
hüllten nicht nur das enge Thal der Meerenge, was nicht selten zu geschehen
pflegt, sondern auch die höher gelegenen Flächen und Hügelketten in ihre
Schleier ein. Endlich, beim Beginn der Nacht, brach ein heftiger Sturm aus;
der Wind stand aus Südost, und in meiner mehre tausend Schritt vom
Strande gelegenen Landwohnung hörte ich deutlich die Brandung brausen.
Jetzt ist die Sonne wieder aufgegangen, aber hinter einem schwarzen Wolken¬
vorhang, der nicht einem einzigen der glänzenden Strahlen den freien Durch¬
bruch gestattet. Die Phrase von dem ewig lächelnden Himmel über Stambul
wird heute zur Ironie; und kaum würde in solcher Stunde Zar Nikolaus,
wenn der Marsch seiner Heere bis hierher gelangt wäre, wie er kühn geträumt,
sich behaglicher fühlen als im nordischen Se. Petersburg, zumal wenn er, wie
hier mit wenigen Ausnahmen die gesammte Bevölkerung es ist, auf den Auf¬
enthalt zwischen hölzernen Wänden angewiesen wäre und den großen Stein¬
palast in der grande Rue de Pein (Russisches Gesandtschastspalais) nicht zur
Verfügung hätte.

Außer dem Mangel an Sonnenschein leiden wir am heutigen Sonntage
den noch viel empfindlicheren an frischen Neuigkeiten, ttavaclis M (es giebt
nichts Neues) sagte schon gestern die Mehrzahl der alten graubärtigen Türken
vor den Kaffeehäusern, und ließ bedenklich den Kopf hängen; aber selbst
die im großen historischen Drama mitspielende hohe Diplomatie von Pera war
gestern nicht besser daran, als jenes Puvlicum aus dem tiefsten weit hinterwärts
situirter Parterre, und ich zweifle, daß inzwischen ein Krimdampser angekom-
men ist; geschah es wider Erwarten am Morgen, so werde ich Ihnen die ein¬
gelaufenen Kunden noch in Form einer Nachschrift am Schluß meines Briefes
mittheilen.

Sobald die positiven Nachrichten fehlen, haben die falschen und übelwol¬
lenden Gerüchte freien Spielraum, und zwar hat dieser Erfahrungssatz aus
die hiesige Capitale mehr Anwendung, als auf irgendeine andere. Um das
zu verstehen, wollen Sie sich neben der hier wohnenden türkischen Bevölkerung
die ebenso starke, nach Hunderttausenden zählende griechische mit ihrer blinden
Wuth gegen die Westmächte und das Osmanenthum, und ihrem Feuereifer
für die Interessen des Zars vergegenwärtigen. Jeden Schlag, der gegen


Der Augenblick scheint nahe, wo der deutsche Kaiserstaat als Seemacht auf dem
Pontus auftreten, und gleichwie heute zu Lande, so dann auch zur See, den
Flankenschutz der türkischen Lande gegen Rußland allein auf sich nehmen wird.

Ich hatte zu früh über den mit so heiteren, sonnigen Tagen beginnenden
Spätherbst triumphirt; seit gestern Abend ist ein plötzlicher Wechsel in der
Witterung eingetreten; aus dem Bospor stiegen dichte, feuchte Nebel auf und
hüllten nicht nur das enge Thal der Meerenge, was nicht selten zu geschehen
pflegt, sondern auch die höher gelegenen Flächen und Hügelketten in ihre
Schleier ein. Endlich, beim Beginn der Nacht, brach ein heftiger Sturm aus;
der Wind stand aus Südost, und in meiner mehre tausend Schritt vom
Strande gelegenen Landwohnung hörte ich deutlich die Brandung brausen.
Jetzt ist die Sonne wieder aufgegangen, aber hinter einem schwarzen Wolken¬
vorhang, der nicht einem einzigen der glänzenden Strahlen den freien Durch¬
bruch gestattet. Die Phrase von dem ewig lächelnden Himmel über Stambul
wird heute zur Ironie; und kaum würde in solcher Stunde Zar Nikolaus,
wenn der Marsch seiner Heere bis hierher gelangt wäre, wie er kühn geträumt,
sich behaglicher fühlen als im nordischen Se. Petersburg, zumal wenn er, wie
hier mit wenigen Ausnahmen die gesammte Bevölkerung es ist, auf den Auf¬
enthalt zwischen hölzernen Wänden angewiesen wäre und den großen Stein¬
palast in der grande Rue de Pein (Russisches Gesandtschastspalais) nicht zur
Verfügung hätte.

Außer dem Mangel an Sonnenschein leiden wir am heutigen Sonntage
den noch viel empfindlicheren an frischen Neuigkeiten, ttavaclis M (es giebt
nichts Neues) sagte schon gestern die Mehrzahl der alten graubärtigen Türken
vor den Kaffeehäusern, und ließ bedenklich den Kopf hängen; aber selbst
die im großen historischen Drama mitspielende hohe Diplomatie von Pera war
gestern nicht besser daran, als jenes Puvlicum aus dem tiefsten weit hinterwärts
situirter Parterre, und ich zweifle, daß inzwischen ein Krimdampser angekom-
men ist; geschah es wider Erwarten am Morgen, so werde ich Ihnen die ein¬
gelaufenen Kunden noch in Form einer Nachschrift am Schluß meines Briefes
mittheilen.

Sobald die positiven Nachrichten fehlen, haben die falschen und übelwol¬
lenden Gerüchte freien Spielraum, und zwar hat dieser Erfahrungssatz aus
die hiesige Capitale mehr Anwendung, als auf irgendeine andere. Um das
zu verstehen, wollen Sie sich neben der hier wohnenden türkischen Bevölkerung
die ebenso starke, nach Hunderttausenden zählende griechische mit ihrer blinden
Wuth gegen die Westmächte und das Osmanenthum, und ihrem Feuereifer
für die Interessen des Zars vergegenwärtigen. Jeden Schlag, der gegen


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[0318] Der Augenblick scheint nahe, wo der deutsche Kaiserstaat als Seemacht auf dem Pontus auftreten, und gleichwie heute zu Lande, so dann auch zur See, den Flankenschutz der türkischen Lande gegen Rußland allein auf sich nehmen wird. Ich hatte zu früh über den mit so heiteren, sonnigen Tagen beginnenden Spätherbst triumphirt; seit gestern Abend ist ein plötzlicher Wechsel in der Witterung eingetreten; aus dem Bospor stiegen dichte, feuchte Nebel auf und hüllten nicht nur das enge Thal der Meerenge, was nicht selten zu geschehen pflegt, sondern auch die höher gelegenen Flächen und Hügelketten in ihre Schleier ein. Endlich, beim Beginn der Nacht, brach ein heftiger Sturm aus; der Wind stand aus Südost, und in meiner mehre tausend Schritt vom Strande gelegenen Landwohnung hörte ich deutlich die Brandung brausen. Jetzt ist die Sonne wieder aufgegangen, aber hinter einem schwarzen Wolken¬ vorhang, der nicht einem einzigen der glänzenden Strahlen den freien Durch¬ bruch gestattet. Die Phrase von dem ewig lächelnden Himmel über Stambul wird heute zur Ironie; und kaum würde in solcher Stunde Zar Nikolaus, wenn der Marsch seiner Heere bis hierher gelangt wäre, wie er kühn geträumt, sich behaglicher fühlen als im nordischen Se. Petersburg, zumal wenn er, wie hier mit wenigen Ausnahmen die gesammte Bevölkerung es ist, auf den Auf¬ enthalt zwischen hölzernen Wänden angewiesen wäre und den großen Stein¬ palast in der grande Rue de Pein (Russisches Gesandtschastspalais) nicht zur Verfügung hätte. Außer dem Mangel an Sonnenschein leiden wir am heutigen Sonntage den noch viel empfindlicheren an frischen Neuigkeiten, ttavaclis M (es giebt nichts Neues) sagte schon gestern die Mehrzahl der alten graubärtigen Türken vor den Kaffeehäusern, und ließ bedenklich den Kopf hängen; aber selbst die im großen historischen Drama mitspielende hohe Diplomatie von Pera war gestern nicht besser daran, als jenes Puvlicum aus dem tiefsten weit hinterwärts situirter Parterre, und ich zweifle, daß inzwischen ein Krimdampser angekom- men ist; geschah es wider Erwarten am Morgen, so werde ich Ihnen die ein¬ gelaufenen Kunden noch in Form einer Nachschrift am Schluß meines Briefes mittheilen. Sobald die positiven Nachrichten fehlen, haben die falschen und übelwol¬ lenden Gerüchte freien Spielraum, und zwar hat dieser Erfahrungssatz aus die hiesige Capitale mehr Anwendung, als auf irgendeine andere. Um das zu verstehen, wollen Sie sich neben der hier wohnenden türkischen Bevölkerung die ebenso starke, nach Hunderttausenden zählende griechische mit ihrer blinden Wuth gegen die Westmächte und das Osmanenthum, und ihrem Feuereifer für die Interessen des Zars vergegenwärtigen. Jeden Schlag, der gegen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/318>, abgerufen am 25.08.2024.