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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

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fischen Truppen zugewiesen hat, und wiederum sind dieselben nur sozusagen im
Sinne von Brückenköpfen gedacht, welche die gedeckte Einschiffung der Bela¬
gerungsarmee für den Fall einer etwaigen Katastrophe ermöglichen sollen. Man
muß diese Vorsicht loben, wenn man auch nicht die Meinung theilt, daß
Rußland im Stande sein werde, eine solche Katastrophe herbeizuführen.

Durch die erwiesene Thatsache von dem Vorhandensein einer für große
Truppenkörper nutzbaren Verbindung zwischen Sebastopol im engeren Sinne
und der Position von Backtschi Serai gewinnt aber die Belagerung einen ganz
andern Charakter als der ist, welchen man derselben seither zugeschrieben. Sie
ist nicht mehr der Kampf einer eingeschlossenen Mindermacht, deren Streitkräfte
und Material jeder Tag verringert, sondern die ganze Festung will nur als eine
Avantgardenstellung der weiter zurückstehender russischen Armee aufgefaßt sein,
und der Fall gehört dabei nicht zu den Unmöglichkeiten, daß demnächst das
ganze Gros hier Posto fassen wird, um eine endliche Entscheidung zu geben.

Die, bei solcher neuen Anschauung des Kampfes, auf der feindlichen Seite
erkennbaren Chancen sind so bedeutend, daß man besorgt fragen möchte: ob der
Ausgang der großen Unternehmung wirklich so gesichert ist, wie er anfangs
schien, und ob nicht etwa Rußland uns auf ein Schlachtfeld gelockt habe, wo
ihm schließlich der Sieg verbleiben müsse. Diese Meinung gewinnt etwas für
sich, wenn man erwägt, wie die meisten taktischen Siege in der Neuzeit auf
dem Princip der Oekonomie der Kräfte beruhen und daß hier derselbe Gundsatz
von Nußland scheinbar zur Anwendung gebracht wird. Wer Napoleonische
Schlachten studirt hat, wird sich erinnern, wie der Kaiser die Entscheidung erst
dann zu geben pflegte, wenn er den Feind durch eine Mindermacht zuvor lange
Zeit beschäftigt und ihn gezwungen hatte, seine Kräfte an derselben abzunutzen.
Erst wenn er dieses letzteren Resultats gewiß war, brach er, meistens in der
Spätstnnde, mit seinen Reserven vor, und vollendete das Geschick des Tages.
Wie nun, wenn der Zar sich diese Regel zu Nutzen gemacht hätte, wenn er
beabsichtigte, mit den 6 0,000 Mann, die nunmehr in Sebastopol stehen mögen,
unsre 70,000 Mann hinzuhalten, dieselben sich nach und nach abnützen zu
lassen durch vergebliche Stürme und Feuerangriffe, um, wenn sie letztlich mürbe
-geworden, von der hohen Position zu Backtschi Serai herniederzusteigen, um sie
in der Ebene südwärts von Sebastopol zur Schlacht zu bringen!?

Dieses Raisonnement würde etwas für sich säbelt, wenn beide Heere von
demselben moralischen und militärischen Werth wären; 'da sie es nicht sind, ver¬
liert es indeß seinen besten Halt. Außerdem ist es äußerst zweifelhaft, ob
nicht die 40,000 Mann, welche in Sebastopol eingeschlossen sein sollen und
einem concentrischen Feuer preisgegeben sind, einen nicht nur verhältnißmäßig,
sondern absolut größeren Verlust als die verbündeten Truppen erleiden wer¬
den. Wie ich die Dinge aus Grund der mir vorliegenden Pläne anschaue,


fischen Truppen zugewiesen hat, und wiederum sind dieselben nur sozusagen im
Sinne von Brückenköpfen gedacht, welche die gedeckte Einschiffung der Bela¬
gerungsarmee für den Fall einer etwaigen Katastrophe ermöglichen sollen. Man
muß diese Vorsicht loben, wenn man auch nicht die Meinung theilt, daß
Rußland im Stande sein werde, eine solche Katastrophe herbeizuführen.

Durch die erwiesene Thatsache von dem Vorhandensein einer für große
Truppenkörper nutzbaren Verbindung zwischen Sebastopol im engeren Sinne
und der Position von Backtschi Serai gewinnt aber die Belagerung einen ganz
andern Charakter als der ist, welchen man derselben seither zugeschrieben. Sie
ist nicht mehr der Kampf einer eingeschlossenen Mindermacht, deren Streitkräfte
und Material jeder Tag verringert, sondern die ganze Festung will nur als eine
Avantgardenstellung der weiter zurückstehender russischen Armee aufgefaßt sein,
und der Fall gehört dabei nicht zu den Unmöglichkeiten, daß demnächst das
ganze Gros hier Posto fassen wird, um eine endliche Entscheidung zu geben.

Die, bei solcher neuen Anschauung des Kampfes, auf der feindlichen Seite
erkennbaren Chancen sind so bedeutend, daß man besorgt fragen möchte: ob der
Ausgang der großen Unternehmung wirklich so gesichert ist, wie er anfangs
schien, und ob nicht etwa Rußland uns auf ein Schlachtfeld gelockt habe, wo
ihm schließlich der Sieg verbleiben müsse. Diese Meinung gewinnt etwas für
sich, wenn man erwägt, wie die meisten taktischen Siege in der Neuzeit auf
dem Princip der Oekonomie der Kräfte beruhen und daß hier derselbe Gundsatz
von Nußland scheinbar zur Anwendung gebracht wird. Wer Napoleonische
Schlachten studirt hat, wird sich erinnern, wie der Kaiser die Entscheidung erst
dann zu geben pflegte, wenn er den Feind durch eine Mindermacht zuvor lange
Zeit beschäftigt und ihn gezwungen hatte, seine Kräfte an derselben abzunutzen.
Erst wenn er dieses letzteren Resultats gewiß war, brach er, meistens in der
Spätstnnde, mit seinen Reserven vor, und vollendete das Geschick des Tages.
Wie nun, wenn der Zar sich diese Regel zu Nutzen gemacht hätte, wenn er
beabsichtigte, mit den 6 0,000 Mann, die nunmehr in Sebastopol stehen mögen,
unsre 70,000 Mann hinzuhalten, dieselben sich nach und nach abnützen zu
lassen durch vergebliche Stürme und Feuerangriffe, um, wenn sie letztlich mürbe
-geworden, von der hohen Position zu Backtschi Serai herniederzusteigen, um sie
in der Ebene südwärts von Sebastopol zur Schlacht zu bringen!?

Dieses Raisonnement würde etwas für sich säbelt, wenn beide Heere von
demselben moralischen und militärischen Werth wären; 'da sie es nicht sind, ver¬
liert es indeß seinen besten Halt. Außerdem ist es äußerst zweifelhaft, ob
nicht die 40,000 Mann, welche in Sebastopol eingeschlossen sein sollen und
einem concentrischen Feuer preisgegeben sind, einen nicht nur verhältnißmäßig,
sondern absolut größeren Verlust als die verbündeten Truppen erleiden wer¬
den. Wie ich die Dinge aus Grund der mir vorliegenden Pläne anschaue,


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[0276] fischen Truppen zugewiesen hat, und wiederum sind dieselben nur sozusagen im Sinne von Brückenköpfen gedacht, welche die gedeckte Einschiffung der Bela¬ gerungsarmee für den Fall einer etwaigen Katastrophe ermöglichen sollen. Man muß diese Vorsicht loben, wenn man auch nicht die Meinung theilt, daß Rußland im Stande sein werde, eine solche Katastrophe herbeizuführen. Durch die erwiesene Thatsache von dem Vorhandensein einer für große Truppenkörper nutzbaren Verbindung zwischen Sebastopol im engeren Sinne und der Position von Backtschi Serai gewinnt aber die Belagerung einen ganz andern Charakter als der ist, welchen man derselben seither zugeschrieben. Sie ist nicht mehr der Kampf einer eingeschlossenen Mindermacht, deren Streitkräfte und Material jeder Tag verringert, sondern die ganze Festung will nur als eine Avantgardenstellung der weiter zurückstehender russischen Armee aufgefaßt sein, und der Fall gehört dabei nicht zu den Unmöglichkeiten, daß demnächst das ganze Gros hier Posto fassen wird, um eine endliche Entscheidung zu geben. Die, bei solcher neuen Anschauung des Kampfes, auf der feindlichen Seite erkennbaren Chancen sind so bedeutend, daß man besorgt fragen möchte: ob der Ausgang der großen Unternehmung wirklich so gesichert ist, wie er anfangs schien, und ob nicht etwa Rußland uns auf ein Schlachtfeld gelockt habe, wo ihm schließlich der Sieg verbleiben müsse. Diese Meinung gewinnt etwas für sich, wenn man erwägt, wie die meisten taktischen Siege in der Neuzeit auf dem Princip der Oekonomie der Kräfte beruhen und daß hier derselbe Gundsatz von Nußland scheinbar zur Anwendung gebracht wird. Wer Napoleonische Schlachten studirt hat, wird sich erinnern, wie der Kaiser die Entscheidung erst dann zu geben pflegte, wenn er den Feind durch eine Mindermacht zuvor lange Zeit beschäftigt und ihn gezwungen hatte, seine Kräfte an derselben abzunutzen. Erst wenn er dieses letzteren Resultats gewiß war, brach er, meistens in der Spätstnnde, mit seinen Reserven vor, und vollendete das Geschick des Tages. Wie nun, wenn der Zar sich diese Regel zu Nutzen gemacht hätte, wenn er beabsichtigte, mit den 6 0,000 Mann, die nunmehr in Sebastopol stehen mögen, unsre 70,000 Mann hinzuhalten, dieselben sich nach und nach abnützen zu lassen durch vergebliche Stürme und Feuerangriffe, um, wenn sie letztlich mürbe -geworden, von der hohen Position zu Backtschi Serai herniederzusteigen, um sie in der Ebene südwärts von Sebastopol zur Schlacht zu bringen!? Dieses Raisonnement würde etwas für sich säbelt, wenn beide Heere von demselben moralischen und militärischen Werth wären; 'da sie es nicht sind, ver¬ liert es indeß seinen besten Halt. Außerdem ist es äußerst zweifelhaft, ob nicht die 40,000 Mann, welche in Sebastopol eingeschlossen sein sollen und einem concentrischen Feuer preisgegeben sind, einen nicht nur verhältnißmäßig, sondern absolut größeren Verlust als die verbündeten Truppen erleiden wer¬ den. Wie ich die Dinge aus Grund der mir vorliegenden Pläne anschaue,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/276>, abgerufen am 22.07.2024.