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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

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aus diesen Ueberlieferungen gewinnt, ist nur gering. "Gewiß ist, daß in
Zeiten, welche außerhalb der historischen Erinnerung liegen, beständige Aen¬
derungen in der gegenseitigen Stellung und dem Zustande der verschiedenen
Stämme stattfanden, mit denen die nördlichen Theile von Europa bevölkert
waren. In dieses große Becken ergossen sich die einander folgenden Strömungen
keltischer, germanischer und slawischer Einwanderungen und hier wurden Jahr¬
hunderte hindurch wahrscheinlich Erschütterungen veranlaßt, welche in dem
großen Ausbruche ihr Ende fanden, den die Deutschen die Völkerwanderung
nennen. Mehre Menschenalter hindurch mögen Volksstämme oder Theile davon
von Ort zu Ort gezogen sein, wie die Verhältnisse es erforderten; Namen
mögen aufgetaucht und dann sämmtlich wieder in Vergessenheit gerathen sein;
Kriege, Aufstände, Eroberungen, das Aufblühen und der Sturz von Staaten,
die feierliche Bildung und Wiederauflösung von Bündnissen mögen den Zeit¬
raum gefüllt haben, welcher zwischen der ersten Anstedlung der Germanen in
Deutschland und ihrer für die Ruhe Roms so gefährlichen Erscheinung in der
Geschichte liegt. In den Heldenliedern sind vielleicht einige dunkle Spuren
dieser Ereignisse erhalten; aber von allen diesen Veränderungen wissen wir
nichts Genaues." --

Wer nun aber glauben sollte, daß durch diese Herabsetzung der bisher
als historisch angenommenen Ueberlieferungen in das Gebiet der Mythe das
Feld der Geschichte selbst eingeengt würde, den würde das reich und üppig
hervorquellende Leben, das wir in allen Theilen dieses Geschichtswerks wahr¬
nehmen, bald eines bessern überführen. Die Anekdoten, die Geschichte der
einzelnen Raufereien, die Register von gestaltlosen Namen büßen wir allerdings
ein; dafür werden wir aber in den Stand gesetzt, die Entwicklung der sittlichen
Zustände, des Verkehrs, der Gesetze und staatlichen Einrichtungen in jenem
organischen Wachsthum zu verfolgen, das uns die Einheit der menschlichen
Gesellschaft in dem scheinbaren Wechsel der Geschichte versinnlicht. "Weit
weniger in den fabelhaften Berichten, welche die Historiker aufgenommen haben,
als in den Theilungen des Landes selbst, zusammengestellt mit den daraus
ansässigen Bevölkerungen und dem Range von deren verschiedenen Gliedern,
muß die Wahrheit gesucht werden. Die Namen der Stämme und Familien
haben sich in den von denselben bebauten Orten erhalten, während die einzelnen
Formen ihres Gewohnheitsrechts in ein allgemeines System verschmolzen
worden siud......Was wir von den ursprünglichen Grundsätzen der An¬
stedlung, welche in England oder auf dem europäischen Continent unter den
Nationen germanischer Abstammung zur Anwendung kamen, erfahren, beruht
auf zwei Hauptgrundlagen: dem Grundbesitz und der Nangverschiedenheit; und
das öffentliche Recht jedes germanischen Volksstammes setzt die Abhängigkeit
dieser beiden Grundsätze voneinander in einem höhern oder geringern Maße


aus diesen Ueberlieferungen gewinnt, ist nur gering. „Gewiß ist, daß in
Zeiten, welche außerhalb der historischen Erinnerung liegen, beständige Aen¬
derungen in der gegenseitigen Stellung und dem Zustande der verschiedenen
Stämme stattfanden, mit denen die nördlichen Theile von Europa bevölkert
waren. In dieses große Becken ergossen sich die einander folgenden Strömungen
keltischer, germanischer und slawischer Einwanderungen und hier wurden Jahr¬
hunderte hindurch wahrscheinlich Erschütterungen veranlaßt, welche in dem
großen Ausbruche ihr Ende fanden, den die Deutschen die Völkerwanderung
nennen. Mehre Menschenalter hindurch mögen Volksstämme oder Theile davon
von Ort zu Ort gezogen sein, wie die Verhältnisse es erforderten; Namen
mögen aufgetaucht und dann sämmtlich wieder in Vergessenheit gerathen sein;
Kriege, Aufstände, Eroberungen, das Aufblühen und der Sturz von Staaten,
die feierliche Bildung und Wiederauflösung von Bündnissen mögen den Zeit¬
raum gefüllt haben, welcher zwischen der ersten Anstedlung der Germanen in
Deutschland und ihrer für die Ruhe Roms so gefährlichen Erscheinung in der
Geschichte liegt. In den Heldenliedern sind vielleicht einige dunkle Spuren
dieser Ereignisse erhalten; aber von allen diesen Veränderungen wissen wir
nichts Genaues." —

Wer nun aber glauben sollte, daß durch diese Herabsetzung der bisher
als historisch angenommenen Ueberlieferungen in das Gebiet der Mythe das
Feld der Geschichte selbst eingeengt würde, den würde das reich und üppig
hervorquellende Leben, das wir in allen Theilen dieses Geschichtswerks wahr¬
nehmen, bald eines bessern überführen. Die Anekdoten, die Geschichte der
einzelnen Raufereien, die Register von gestaltlosen Namen büßen wir allerdings
ein; dafür werden wir aber in den Stand gesetzt, die Entwicklung der sittlichen
Zustände, des Verkehrs, der Gesetze und staatlichen Einrichtungen in jenem
organischen Wachsthum zu verfolgen, das uns die Einheit der menschlichen
Gesellschaft in dem scheinbaren Wechsel der Geschichte versinnlicht. „Weit
weniger in den fabelhaften Berichten, welche die Historiker aufgenommen haben,
als in den Theilungen des Landes selbst, zusammengestellt mit den daraus
ansässigen Bevölkerungen und dem Range von deren verschiedenen Gliedern,
muß die Wahrheit gesucht werden. Die Namen der Stämme und Familien
haben sich in den von denselben bebauten Orten erhalten, während die einzelnen
Formen ihres Gewohnheitsrechts in ein allgemeines System verschmolzen
worden siud......Was wir von den ursprünglichen Grundsätzen der An¬
stedlung, welche in England oder auf dem europäischen Continent unter den
Nationen germanischer Abstammung zur Anwendung kamen, erfahren, beruht
auf zwei Hauptgrundlagen: dem Grundbesitz und der Nangverschiedenheit; und
das öffentliche Recht jedes germanischen Volksstammes setzt die Abhängigkeit
dieser beiden Grundsätze voneinander in einem höhern oder geringern Maße


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/260>, abgerufen am 22.07.2024.