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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

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Seele und Leib gefunden und diese Vorstellung wurzelte bei den meisten so
fest, daß man die ersten Gerüchte der Entdeckungen von Dubois-Reymond fast
spöttisch und durchaus ungläubig aufnahm. Aber bald darauf traten diese
ans Licht, die Untersuchungen zeigten sich mit solcher Sorgfalt und solchem
Scharfsinn angestellt, daß sich an den Thatsachen nicht zweifeln ließ, und es
war bewiesen, daß (wenigstens in den peripherischen Nerven) die Nerventhätig-
keit mit der Elektricität in naher Beziehung stehe, ja vielleicht oder wahr¬
scheinlich mit ihr identisch sei. In der heutigen Naturforschung herrscht ein
fieberhaftes Treiben, jeder will der erste sein, etwas Neues zu finden, wer etwas
gefunden, eilt, es in den zahlreichen Zeitschriften bekannt zu machen und zehn
andere stehen wieder auf dem Sprunge, jedes Neue weiter zu verfolgen und
auszubeuten. Eine so unerhörte, von der Kritik nicht umzustoßende Entdeckung
mußte daher ein ungeheures Aufsehen und einen ebenso heftigen Impuls geben
und gleich in der e"se"> Begeisterung setzte man über alle fehlenden Mittel¬
glieder zu der Hypothese über, daß die gesammte Nerventhätigkeit, also auch
die des Gehirns oder die Seelenthätigkeiten nur elektrische Processe seien.
Daß eine solche ertreme Idee auftreten mußte, weiß jeder, ver den Entwicklungs¬
gang der menschlichen Bildung, das fortwährende Hin- und Herschwanken
zwischen Extremen kannte, einen ähnlichen Gang haben wir gleichzeitig die
Literatur von der Romantik zu den Dorfgeschichten nehmen sehen, so daß ein
genauerer Kenner der Geschichte, als der Verfasser, einen ähnlichen Denkproceß
wahrscheinlich im ganzen Zeitalter würde nachweisen können.

Die neue Hypothese zu stützen wurde nunmehr alles vorräthige Material
zusammengehäuft. Schon seit Sömmerings Zeit war das Gehirn als Organ
des Denkens anerkannt, Galls Phrenologie, also das Bemühen, durch körper¬
liche Organisation geistige Verschiedenheiten zu erklären, fand nicht im Princip,
sondern wegen der oberflächlichen Durchführung Widerspruch, Erperimente und
Ersahrungen am Krankenbette bewiesen, daß Verletzungen des Gehirns Stö¬
rungen der Seelenthätigkeit zur Folge hatten, kurz Geist und Gehirn hatten
sich in der Vorstellung bereits ineinander verschmolzen. Dazu kam noch der
Vergleich mit ver Thierwelt; die niedersten Thiere'unterscheiden sich kaum oder
gar nicht von Pflanzen, die weitere Entwicklung des Nervensystems geht ziem¬
lich parallel mit der Entwicklung sogenannter Seeleitthätig'leiten, bis denn in
den am meisten entwickelten und vom Menschen erzogenen Thieren sogar Vor-
stellungs- und Unterscheidungsvermögen, also ein Analogon des menschlichen
Verstandes nachgewiesen werden kann. Unbedenklich schrieb man daher mei¬
stens den Thieren eine Seele zu, wenn auch die der niedersten Arten nicht
bedeutender, als die eines enthirnten Frosches schien und daher einigermaßen
in Verlegenheit setzen konnte. So schien eine allmälige Stufenleiter der Seelen¬
entwicklung durch die Thierreiche bis zum Menschen aufzusteigen, und wenn


Seele und Leib gefunden und diese Vorstellung wurzelte bei den meisten so
fest, daß man die ersten Gerüchte der Entdeckungen von Dubois-Reymond fast
spöttisch und durchaus ungläubig aufnahm. Aber bald darauf traten diese
ans Licht, die Untersuchungen zeigten sich mit solcher Sorgfalt und solchem
Scharfsinn angestellt, daß sich an den Thatsachen nicht zweifeln ließ, und es
war bewiesen, daß (wenigstens in den peripherischen Nerven) die Nerventhätig-
keit mit der Elektricität in naher Beziehung stehe, ja vielleicht oder wahr¬
scheinlich mit ihr identisch sei. In der heutigen Naturforschung herrscht ein
fieberhaftes Treiben, jeder will der erste sein, etwas Neues zu finden, wer etwas
gefunden, eilt, es in den zahlreichen Zeitschriften bekannt zu machen und zehn
andere stehen wieder auf dem Sprunge, jedes Neue weiter zu verfolgen und
auszubeuten. Eine so unerhörte, von der Kritik nicht umzustoßende Entdeckung
mußte daher ein ungeheures Aufsehen und einen ebenso heftigen Impuls geben
und gleich in der e»se"> Begeisterung setzte man über alle fehlenden Mittel¬
glieder zu der Hypothese über, daß die gesammte Nerventhätigkeit, also auch
die des Gehirns oder die Seelenthätigkeiten nur elektrische Processe seien.
Daß eine solche ertreme Idee auftreten mußte, weiß jeder, ver den Entwicklungs¬
gang der menschlichen Bildung, das fortwährende Hin- und Herschwanken
zwischen Extremen kannte, einen ähnlichen Gang haben wir gleichzeitig die
Literatur von der Romantik zu den Dorfgeschichten nehmen sehen, so daß ein
genauerer Kenner der Geschichte, als der Verfasser, einen ähnlichen Denkproceß
wahrscheinlich im ganzen Zeitalter würde nachweisen können.

Die neue Hypothese zu stützen wurde nunmehr alles vorräthige Material
zusammengehäuft. Schon seit Sömmerings Zeit war das Gehirn als Organ
des Denkens anerkannt, Galls Phrenologie, also das Bemühen, durch körper¬
liche Organisation geistige Verschiedenheiten zu erklären, fand nicht im Princip,
sondern wegen der oberflächlichen Durchführung Widerspruch, Erperimente und
Ersahrungen am Krankenbette bewiesen, daß Verletzungen des Gehirns Stö¬
rungen der Seelenthätigkeit zur Folge hatten, kurz Geist und Gehirn hatten
sich in der Vorstellung bereits ineinander verschmolzen. Dazu kam noch der
Vergleich mit ver Thierwelt; die niedersten Thiere'unterscheiden sich kaum oder
gar nicht von Pflanzen, die weitere Entwicklung des Nervensystems geht ziem¬
lich parallel mit der Entwicklung sogenannter Seeleitthätig'leiten, bis denn in
den am meisten entwickelten und vom Menschen erzogenen Thieren sogar Vor-
stellungs- und Unterscheidungsvermögen, also ein Analogon des menschlichen
Verstandes nachgewiesen werden kann. Unbedenklich schrieb man daher mei¬
stens den Thieren eine Seele zu, wenn auch die der niedersten Arten nicht
bedeutender, als die eines enthirnten Frosches schien und daher einigermaßen
in Verlegenheit setzen konnte. So schien eine allmälige Stufenleiter der Seelen¬
entwicklung durch die Thierreiche bis zum Menschen aufzusteigen, und wenn


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[0256] Seele und Leib gefunden und diese Vorstellung wurzelte bei den meisten so fest, daß man die ersten Gerüchte der Entdeckungen von Dubois-Reymond fast spöttisch und durchaus ungläubig aufnahm. Aber bald darauf traten diese ans Licht, die Untersuchungen zeigten sich mit solcher Sorgfalt und solchem Scharfsinn angestellt, daß sich an den Thatsachen nicht zweifeln ließ, und es war bewiesen, daß (wenigstens in den peripherischen Nerven) die Nerventhätig- keit mit der Elektricität in naher Beziehung stehe, ja vielleicht oder wahr¬ scheinlich mit ihr identisch sei. In der heutigen Naturforschung herrscht ein fieberhaftes Treiben, jeder will der erste sein, etwas Neues zu finden, wer etwas gefunden, eilt, es in den zahlreichen Zeitschriften bekannt zu machen und zehn andere stehen wieder auf dem Sprunge, jedes Neue weiter zu verfolgen und auszubeuten. Eine so unerhörte, von der Kritik nicht umzustoßende Entdeckung mußte daher ein ungeheures Aufsehen und einen ebenso heftigen Impuls geben und gleich in der e»se"> Begeisterung setzte man über alle fehlenden Mittel¬ glieder zu der Hypothese über, daß die gesammte Nerventhätigkeit, also auch die des Gehirns oder die Seelenthätigkeiten nur elektrische Processe seien. Daß eine solche ertreme Idee auftreten mußte, weiß jeder, ver den Entwicklungs¬ gang der menschlichen Bildung, das fortwährende Hin- und Herschwanken zwischen Extremen kannte, einen ähnlichen Gang haben wir gleichzeitig die Literatur von der Romantik zu den Dorfgeschichten nehmen sehen, so daß ein genauerer Kenner der Geschichte, als der Verfasser, einen ähnlichen Denkproceß wahrscheinlich im ganzen Zeitalter würde nachweisen können. Die neue Hypothese zu stützen wurde nunmehr alles vorräthige Material zusammengehäuft. Schon seit Sömmerings Zeit war das Gehirn als Organ des Denkens anerkannt, Galls Phrenologie, also das Bemühen, durch körper¬ liche Organisation geistige Verschiedenheiten zu erklären, fand nicht im Princip, sondern wegen der oberflächlichen Durchführung Widerspruch, Erperimente und Ersahrungen am Krankenbette bewiesen, daß Verletzungen des Gehirns Stö¬ rungen der Seelenthätigkeit zur Folge hatten, kurz Geist und Gehirn hatten sich in der Vorstellung bereits ineinander verschmolzen. Dazu kam noch der Vergleich mit ver Thierwelt; die niedersten Thiere'unterscheiden sich kaum oder gar nicht von Pflanzen, die weitere Entwicklung des Nervensystems geht ziem¬ lich parallel mit der Entwicklung sogenannter Seeleitthätig'leiten, bis denn in den am meisten entwickelten und vom Menschen erzogenen Thieren sogar Vor- stellungs- und Unterscheidungsvermögen, also ein Analogon des menschlichen Verstandes nachgewiesen werden kann. Unbedenklich schrieb man daher mei¬ stens den Thieren eine Seele zu, wenn auch die der niedersten Arten nicht bedeutender, als die eines enthirnten Frosches schien und daher einigermaßen in Verlegenheit setzen konnte. So schien eine allmälige Stufenleiter der Seelen¬ entwicklung durch die Thierreiche bis zum Menschen aufzusteigen, und wenn

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/256>, abgerufen am 22.07.2024.