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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

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der Ausdruck: Seher, Enthusiast u. s. w. keineswegs identisch mit dem Ausdruck
Schwärmer oder Wahnsinniger u. s. w.; im Gegentheil wird die Gabe des
Schauens nur in einem Gemüth zur Geltung kommen, das sich zugleich der
höchsten Besonnenheit erfreut. Aber daS Technische, das Verständige und
Zweckvolle, was in der Zeit eines complicirten Geschmacks zur Dichtkunst sehr
nothwendig ist, macht ebensowenig den Dichter, als den Propheten, den Er¬
oberer u. s. w., sondern das Schauen ist bei ihm die Hauptsache, auch noch bei
dem echten Dichter in der modernen Zeit, wie z. B. bei Shakespeare, der sich
zwar in einzelnen Fällen auch als ein großer Techniker zeigt, der aber viel
häufiger die Mängel einer sehr zweifelhaften und verdächtigen Technik durch
die Macht seines Schauens ersetzt.

Der Unterschied scheint uns sehr wichtig, denn wenn die Ansicht des Herrn
Braun die richtige wäre, so würde das, was wir eigentliches griechisches Leben
und griechische Kunst nennen, ein bewußter Gegensatz gegen die griechische
Natur und Tradition sein, während es nach unsrer Ansicht nur der correcte
Ausdruck derselben ist. , ^

Vom Hestod sagt der Verf. folgendes: "Er begnügt sich, aufzusammeln,
was er in seiner Nachbarschaft findet, und vermauert die alten Stücke, Capitale
von Memphis und Theben in die Wände seines Provinzialtempels. Die far¬
bigen Sculpturen sind oft gar nach innen gewandt. Aber wir finden, was
wir suchen, denn die alten Ideen stecken noch im Stein, wenn Hesiod es auch
selbst nicht mehr weiß und seine Säulen mit dem Fußgestell nach oben richtet.
Er ist nicht schuld daran, daß aus jener großen kosmischen Katastrophe der
Aegypter, die dort aus dem tiefsten Bedürfniß der Speculation hervorgegangen
mit nothwendiger Sicherheit im System steht, bei den Griechen ein Giganten-
und TiKmenkrieg,' ein Thronkampf des Zeus geworden ist."

Wir müssen zum Verständniß dieser Stelle noch hinzusetzen, daß in der
ganzen Darstellung Hesiod als der Rechtgläubige, Homer als der Ketzer er¬
scheint, mit andern Worten, das natursymbvlische Element der Religion er¬
scheint als das ursprüngliche und wesentliche, das heroische und epische Moment
dagegen als das künstlich gemachte.

Nun glauben wir, daß in jeder Religion (wir lassen >die geoffenbarten
Religionen, die einen andern Ursprung haben, bei Seite), die eine Geschichte
hat, sich ein doppeltes natursymbolisches Moment vorfindet, ein ursprüngliches
und ein reflectirtes. Der erste Ursprung aller Religion ist unzweifelhaft natur¬
symbolisch, denn göttlich ist dem Menschen ursprünglich, was er nicht versteht.
Die Handlungsweise der Menschen versteht er und weiß ihrer feindlichen Ein¬
wirkung zu begegnen; den Grund der physikalischen Erscheinungen dagegen
weiß er sich aus seiner Natur heraus nicht zu erklären, er flieht voll Entsetzen,
oder er wirft sich vor der unbekannten Ursache derselben in den Staub, wie es


"renzboten. IV. -I3si. 28

der Ausdruck: Seher, Enthusiast u. s. w. keineswegs identisch mit dem Ausdruck
Schwärmer oder Wahnsinniger u. s. w.; im Gegentheil wird die Gabe des
Schauens nur in einem Gemüth zur Geltung kommen, das sich zugleich der
höchsten Besonnenheit erfreut. Aber daS Technische, das Verständige und
Zweckvolle, was in der Zeit eines complicirten Geschmacks zur Dichtkunst sehr
nothwendig ist, macht ebensowenig den Dichter, als den Propheten, den Er¬
oberer u. s. w., sondern das Schauen ist bei ihm die Hauptsache, auch noch bei
dem echten Dichter in der modernen Zeit, wie z. B. bei Shakespeare, der sich
zwar in einzelnen Fällen auch als ein großer Techniker zeigt, der aber viel
häufiger die Mängel einer sehr zweifelhaften und verdächtigen Technik durch
die Macht seines Schauens ersetzt.

Der Unterschied scheint uns sehr wichtig, denn wenn die Ansicht des Herrn
Braun die richtige wäre, so würde das, was wir eigentliches griechisches Leben
und griechische Kunst nennen, ein bewußter Gegensatz gegen die griechische
Natur und Tradition sein, während es nach unsrer Ansicht nur der correcte
Ausdruck derselben ist. , ^

Vom Hestod sagt der Verf. folgendes: „Er begnügt sich, aufzusammeln,
was er in seiner Nachbarschaft findet, und vermauert die alten Stücke, Capitale
von Memphis und Theben in die Wände seines Provinzialtempels. Die far¬
bigen Sculpturen sind oft gar nach innen gewandt. Aber wir finden, was
wir suchen, denn die alten Ideen stecken noch im Stein, wenn Hesiod es auch
selbst nicht mehr weiß und seine Säulen mit dem Fußgestell nach oben richtet.
Er ist nicht schuld daran, daß aus jener großen kosmischen Katastrophe der
Aegypter, die dort aus dem tiefsten Bedürfniß der Speculation hervorgegangen
mit nothwendiger Sicherheit im System steht, bei den Griechen ein Giganten-
und TiKmenkrieg,' ein Thronkampf des Zeus geworden ist."

Wir müssen zum Verständniß dieser Stelle noch hinzusetzen, daß in der
ganzen Darstellung Hesiod als der Rechtgläubige, Homer als der Ketzer er¬
scheint, mit andern Worten, das natursymbvlische Element der Religion er¬
scheint als das ursprüngliche und wesentliche, das heroische und epische Moment
dagegen als das künstlich gemachte.

Nun glauben wir, daß in jeder Religion (wir lassen >die geoffenbarten
Religionen, die einen andern Ursprung haben, bei Seite), die eine Geschichte
hat, sich ein doppeltes natursymbolisches Moment vorfindet, ein ursprüngliches
und ein reflectirtes. Der erste Ursprung aller Religion ist unzweifelhaft natur¬
symbolisch, denn göttlich ist dem Menschen ursprünglich, was er nicht versteht.
Die Handlungsweise der Menschen versteht er und weiß ihrer feindlichen Ein¬
wirkung zu begegnen; den Grund der physikalischen Erscheinungen dagegen
weiß er sich aus seiner Natur heraus nicht zu erklären, er flieht voll Entsetzen,
oder er wirft sich vor der unbekannten Ursache derselben in den Staub, wie es


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[0225] der Ausdruck: Seher, Enthusiast u. s. w. keineswegs identisch mit dem Ausdruck Schwärmer oder Wahnsinniger u. s. w.; im Gegentheil wird die Gabe des Schauens nur in einem Gemüth zur Geltung kommen, das sich zugleich der höchsten Besonnenheit erfreut. Aber daS Technische, das Verständige und Zweckvolle, was in der Zeit eines complicirten Geschmacks zur Dichtkunst sehr nothwendig ist, macht ebensowenig den Dichter, als den Propheten, den Er¬ oberer u. s. w., sondern das Schauen ist bei ihm die Hauptsache, auch noch bei dem echten Dichter in der modernen Zeit, wie z. B. bei Shakespeare, der sich zwar in einzelnen Fällen auch als ein großer Techniker zeigt, der aber viel häufiger die Mängel einer sehr zweifelhaften und verdächtigen Technik durch die Macht seines Schauens ersetzt. Der Unterschied scheint uns sehr wichtig, denn wenn die Ansicht des Herrn Braun die richtige wäre, so würde das, was wir eigentliches griechisches Leben und griechische Kunst nennen, ein bewußter Gegensatz gegen die griechische Natur und Tradition sein, während es nach unsrer Ansicht nur der correcte Ausdruck derselben ist. , ^ Vom Hestod sagt der Verf. folgendes: „Er begnügt sich, aufzusammeln, was er in seiner Nachbarschaft findet, und vermauert die alten Stücke, Capitale von Memphis und Theben in die Wände seines Provinzialtempels. Die far¬ bigen Sculpturen sind oft gar nach innen gewandt. Aber wir finden, was wir suchen, denn die alten Ideen stecken noch im Stein, wenn Hesiod es auch selbst nicht mehr weiß und seine Säulen mit dem Fußgestell nach oben richtet. Er ist nicht schuld daran, daß aus jener großen kosmischen Katastrophe der Aegypter, die dort aus dem tiefsten Bedürfniß der Speculation hervorgegangen mit nothwendiger Sicherheit im System steht, bei den Griechen ein Giganten- und TiKmenkrieg,' ein Thronkampf des Zeus geworden ist." Wir müssen zum Verständniß dieser Stelle noch hinzusetzen, daß in der ganzen Darstellung Hesiod als der Rechtgläubige, Homer als der Ketzer er¬ scheint, mit andern Worten, das natursymbvlische Element der Religion er¬ scheint als das ursprüngliche und wesentliche, das heroische und epische Moment dagegen als das künstlich gemachte. Nun glauben wir, daß in jeder Religion (wir lassen >die geoffenbarten Religionen, die einen andern Ursprung haben, bei Seite), die eine Geschichte hat, sich ein doppeltes natursymbolisches Moment vorfindet, ein ursprüngliches und ein reflectirtes. Der erste Ursprung aller Religion ist unzweifelhaft natur¬ symbolisch, denn göttlich ist dem Menschen ursprünglich, was er nicht versteht. Die Handlungsweise der Menschen versteht er und weiß ihrer feindlichen Ein¬ wirkung zu begegnen; den Grund der physikalischen Erscheinungen dagegen weiß er sich aus seiner Natur heraus nicht zu erklären, er flieht voll Entsetzen, oder er wirft sich vor der unbekannten Ursache derselben in den Staub, wie es «renzboten. IV. -I3si. 28

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/225>, abgerufen am 24.08.2024.