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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

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Laufe eines langdauernden Kriegs der Zar nur während der ersten Jahre aus
dieser Institution Nutzen ziehen. Später wird er darauf angewiesen sein, seine
Armee durch Recrutirung zu ergänzen; man weiß indeß, daß dieses letztere
Auskunftsmittel nur ein halbes ist, denn der gemeine Russe ist im Grunde ge¬
nommen nicht kriegerischer Natur und eignet sich schwer, und meistens erst nach
längerer Zeit, soldatische Eigenschaften an.

Aus diesen Umständen schreibt es sich her, daß der Krieg für Rußland'
eine unter allen Umständen den Staatskörper schwächende Action ist, daß man
im Zarenreiche außer Stande ist, wie in andern Ländern eine Armee durch
den Gebrauch zu erziehen, und daß es jener Macht gradezu unmöglich fallen
dürfte, einen Kampf, mit dem westlichen Europa auf die Dauer zu führen,
wenn anders es sich dadurch nicht den alleräußersten Gefahren preisgeben will.

Die Beweise hierfür können aus der Geschichte der letzten fünfzig Jahre
entnommen werden. Es ist allbekannt, daß Rußland der Invasion des Kai¬
sers Napoleon im Jahre -18-12 nur 230,000 Mann entgegenstellen konnte; von
den i-10,000 Mann, von welchen damalige Berichte reden, standen -180,000
Mann, wie später nachgewiesen worden, nur auf dem Papier. Und doch war
dies eine Kraftzusammennahme im Innern des Landes, d. h. für die Concen-
trirung der Massen unter den günstigsten Umständen.

In den Jahren -18-13---Is mußte dem Kaiser Alexander alles darauf an¬
kommen, russischerseits die größtmögliche Stärke zu entfalten. Europa ging
einer großartigen politischen Reorganisation entgegen, das "Gleichgewicht" deö
Welttheils sollte nach neuen Bestimmungsgründen festgestellt werden, und der
schlaue Schwärmer kannte die Welt zu gut, um nicht zu wissen, wie sehr in
politischen Fragen der Nachdruck entscheidet, den man im materiellen Sinne
seinen Forderungen zu gehen vermag. Nußland hatte also allen Grund zu
einer 'Hauptkraftanstrengung, und das Resultat derselben waren -- -140,000
Mann, mit denen es seine Wiener Unterhandlungen zu stützen suchte.

Diese Belege sind sicherlich schlagend; am nächsten und frischesten aber
steht in unsrer Erinnerung Rußlands Schwäche während der Jahre -1830 und
-I83-I. Dermaßen hatte der nur zweijährige Türkenkrieg (-1828 und 29) die
Kräfte des großen Reiches consumirt, daß man dem aufstehenden Polen nur
mit Mühe und indem man Einäugige und Lahme in die Reihen aufnahm,
eine Armee von 90---100,000 Mann entgegenstellen konnte. Und man bezwang
,es letztlich nur unter Beihilfe des Vorschubes, den Preußen den Operationen
des Feldmarschalls Paskewitsch leistete (Weichselübergang oberhalb Thorn).

In den seitherigen Kämpfen, im besondern aber durch Krankheiten, hat die
russische Donauarmee bis Ende Sommers einen Verlust von mindestens 70,000
Mann gehabt; die Einbuße der Corps von Odessa und der Krim belief sich,
gering angeschlagen, auf 25,000 Mann; bis Mitte vorigen Monats hatte


Laufe eines langdauernden Kriegs der Zar nur während der ersten Jahre aus
dieser Institution Nutzen ziehen. Später wird er darauf angewiesen sein, seine
Armee durch Recrutirung zu ergänzen; man weiß indeß, daß dieses letztere
Auskunftsmittel nur ein halbes ist, denn der gemeine Russe ist im Grunde ge¬
nommen nicht kriegerischer Natur und eignet sich schwer, und meistens erst nach
längerer Zeit, soldatische Eigenschaften an.

Aus diesen Umständen schreibt es sich her, daß der Krieg für Rußland'
eine unter allen Umständen den Staatskörper schwächende Action ist, daß man
im Zarenreiche außer Stande ist, wie in andern Ländern eine Armee durch
den Gebrauch zu erziehen, und daß es jener Macht gradezu unmöglich fallen
dürfte, einen Kampf, mit dem westlichen Europa auf die Dauer zu führen,
wenn anders es sich dadurch nicht den alleräußersten Gefahren preisgeben will.

Die Beweise hierfür können aus der Geschichte der letzten fünfzig Jahre
entnommen werden. Es ist allbekannt, daß Rußland der Invasion des Kai¬
sers Napoleon im Jahre -18-12 nur 230,000 Mann entgegenstellen konnte; von
den i-10,000 Mann, von welchen damalige Berichte reden, standen -180,000
Mann, wie später nachgewiesen worden, nur auf dem Papier. Und doch war
dies eine Kraftzusammennahme im Innern des Landes, d. h. für die Concen-
trirung der Massen unter den günstigsten Umständen.

In den Jahren -18-13—-Is mußte dem Kaiser Alexander alles darauf an¬
kommen, russischerseits die größtmögliche Stärke zu entfalten. Europa ging
einer großartigen politischen Reorganisation entgegen, das „Gleichgewicht" deö
Welttheils sollte nach neuen Bestimmungsgründen festgestellt werden, und der
schlaue Schwärmer kannte die Welt zu gut, um nicht zu wissen, wie sehr in
politischen Fragen der Nachdruck entscheidet, den man im materiellen Sinne
seinen Forderungen zu gehen vermag. Nußland hatte also allen Grund zu
einer 'Hauptkraftanstrengung, und das Resultat derselben waren — -140,000
Mann, mit denen es seine Wiener Unterhandlungen zu stützen suchte.

Diese Belege sind sicherlich schlagend; am nächsten und frischesten aber
steht in unsrer Erinnerung Rußlands Schwäche während der Jahre -1830 und
-I83-I. Dermaßen hatte der nur zweijährige Türkenkrieg (-1828 und 29) die
Kräfte des großen Reiches consumirt, daß man dem aufstehenden Polen nur
mit Mühe und indem man Einäugige und Lahme in die Reihen aufnahm,
eine Armee von 90—-100,000 Mann entgegenstellen konnte. Und man bezwang
,es letztlich nur unter Beihilfe des Vorschubes, den Preußen den Operationen
des Feldmarschalls Paskewitsch leistete (Weichselübergang oberhalb Thorn).

In den seitherigen Kämpfen, im besondern aber durch Krankheiten, hat die
russische Donauarmee bis Ende Sommers einen Verlust von mindestens 70,000
Mann gehabt; die Einbuße der Corps von Odessa und der Krim belief sich,
gering angeschlagen, auf 25,000 Mann; bis Mitte vorigen Monats hatte


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/200>, abgerufen am 22.07.2024.