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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

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Compositionen mit einer solchen Tonmasse zu hören bekam. Dem-aufmerksamen
Beobachter des Volkslebens waren auch die überraschten Mienen der in Menge
zusammengeströmten Zuschauer so interessant als die Aufführung selbst. Erst
verwirrt über das noch nie Gehörte, schienen die Gemüther allmälig in dem
Strome der auf sie herunterflntenden Töne sich zurechtzufinden; dann ihre
Bedeutung zu begreifen, endlich wurden sie von ihnen hingerissen, wie die an¬
dächtige Stille, die dem Schlüsse jeder Nummer folgte, deutlich zeigte. Ob der
Bischof von Sitten wol eine Ahnung hatte von der culturhistorischen Wichtig¬
keit der Musik, als er bereitwillig seine Kirche, in welcher bis jetzt nur die
Sequenzen und Antiphonen seiner Domherrn ertönten, zum ersten Male dem
Beethoven und Mendelsohn öffnete, und mit seinem ganzen bischöflichen Gefolge
der Ausführung beiwohnte?

Mittwoch folgte das kleinere Concert, für kleinere Tonstücke und die Pro¬
duktionen einzelner Sänger und Musiker bestimmt; es ist der Tag, an welchem
dem Musiker von Fach Gelegenheit gegeben wird, sich hören zu lassen. Wir
schreiben auch hier das Programm nicht ab, und begnügen uns, die größeren
Productionen dieses Concertes aufzuzeichnen: die c^dur-Symphonie von Nils
Gabe und die Ouvertüre zu Webers Eury'anthe. Mehre Sänger und
Sängerinnen ließen sich hören; doch fehlte der bekannte Walliser Sänger
Mengis, der gegenwärtig den californischen Goldgräbern in Se. Francisco die
berühmte Arie "das Gold ist eine Chimäre" singt, den Spruch aber zum Nutzen
und Frommen seiner Börse anzuwenden versteht. Wenden wir uns jetzt aus
dem glattgebohnten Salon der Musikgesellschaft und von ihrer gemessenen
Etiquette zu der Sängerhütte des schweizerischen Sängervereins, der ungefähr
um die gleiche Zeit in Winterthur zusammenkam. Hier rauscht das Volksleben
mit vollem Strom und die Wellen der Freude schlagen zusammen in be¬
täubendem Jubel.

Die Gesangvereine sind ein bedeutendes Culturelement für die Schweiz
geworden. Das Verdienst, dieses Element des Volksgesanges erkannt und
durch Schrift und Wort zu seiner allgemeinen Einführung angeregt zu haben,
gebührt dem Züricher Hans Georg Naegeli. , Ein philosophischer Kopf und
mit den Resultaten der deutschen Philosophie, namentlich Kants, bekannt, faßte
er die Idee der Volkserziehung von einem ideellen Standpunkte: die Kunst
sollte die Sendung haben, die Menschen sittlich und religiös zu heiligen; als
das Bildendste und Bleibendste in der Lichtwelt der Kunst galt ihm aber das
in schöner Tonform gesungene Wort. Der Idee, den Gesang zu einem mäch¬
tigen Erzieher des Volkes.zu erheben, war sein ganzes Leben geweiht. Ueber
2600 größere und kleinere Arbeiten hat er in dieser Richtung vollendet. Als
Pädagog schrieb er im Geiste Pestalozzis mehre theoretische Werke und An¬
leitungen zum Gesänge; als . Componist bedachte er das ganze Volksleben in
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Compositionen mit einer solchen Tonmasse zu hören bekam. Dem-aufmerksamen
Beobachter des Volkslebens waren auch die überraschten Mienen der in Menge
zusammengeströmten Zuschauer so interessant als die Aufführung selbst. Erst
verwirrt über das noch nie Gehörte, schienen die Gemüther allmälig in dem
Strome der auf sie herunterflntenden Töne sich zurechtzufinden; dann ihre
Bedeutung zu begreifen, endlich wurden sie von ihnen hingerissen, wie die an¬
dächtige Stille, die dem Schlüsse jeder Nummer folgte, deutlich zeigte. Ob der
Bischof von Sitten wol eine Ahnung hatte von der culturhistorischen Wichtig¬
keit der Musik, als er bereitwillig seine Kirche, in welcher bis jetzt nur die
Sequenzen und Antiphonen seiner Domherrn ertönten, zum ersten Male dem
Beethoven und Mendelsohn öffnete, und mit seinem ganzen bischöflichen Gefolge
der Ausführung beiwohnte?

Mittwoch folgte das kleinere Concert, für kleinere Tonstücke und die Pro¬
duktionen einzelner Sänger und Musiker bestimmt; es ist der Tag, an welchem
dem Musiker von Fach Gelegenheit gegeben wird, sich hören zu lassen. Wir
schreiben auch hier das Programm nicht ab, und begnügen uns, die größeren
Productionen dieses Concertes aufzuzeichnen: die c^dur-Symphonie von Nils
Gabe und die Ouvertüre zu Webers Eury'anthe. Mehre Sänger und
Sängerinnen ließen sich hören; doch fehlte der bekannte Walliser Sänger
Mengis, der gegenwärtig den californischen Goldgräbern in Se. Francisco die
berühmte Arie „das Gold ist eine Chimäre" singt, den Spruch aber zum Nutzen
und Frommen seiner Börse anzuwenden versteht. Wenden wir uns jetzt aus
dem glattgebohnten Salon der Musikgesellschaft und von ihrer gemessenen
Etiquette zu der Sängerhütte des schweizerischen Sängervereins, der ungefähr
um die gleiche Zeit in Winterthur zusammenkam. Hier rauscht das Volksleben
mit vollem Strom und die Wellen der Freude schlagen zusammen in be¬
täubendem Jubel.

Die Gesangvereine sind ein bedeutendes Culturelement für die Schweiz
geworden. Das Verdienst, dieses Element des Volksgesanges erkannt und
durch Schrift und Wort zu seiner allgemeinen Einführung angeregt zu haben,
gebührt dem Züricher Hans Georg Naegeli. , Ein philosophischer Kopf und
mit den Resultaten der deutschen Philosophie, namentlich Kants, bekannt, faßte
er die Idee der Volkserziehung von einem ideellen Standpunkte: die Kunst
sollte die Sendung haben, die Menschen sittlich und religiös zu heiligen; als
das Bildendste und Bleibendste in der Lichtwelt der Kunst galt ihm aber das
in schöner Tonform gesungene Wort. Der Idee, den Gesang zu einem mäch¬
tigen Erzieher des Volkes.zu erheben, war sein ganzes Leben geweiht. Ueber
2600 größere und kleinere Arbeiten hat er in dieser Richtung vollendet. Als
Pädagog schrieb er im Geiste Pestalozzis mehre theoretische Werke und An¬
leitungen zum Gesänge; als . Componist bedachte er das ganze Volksleben in
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/19>, abgerufen am 22.07.2024.