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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

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wende, so befriedigende Cultur des Mittelalters keineswegs das war, wofür
sie sich ausgab; daß sie vielmehr von den tiefsten Widersprüchen zerrissen war,
und daß sie die Wiedcrentdeckung des Alterthums ebenso postulirte, wie das
heidnische Alterthum die christliche Offenbarung. Zwar hat das Mittelalter
den Humanismus ebensowenig aus sich heraus hervorzubringen vermocht, als
Rom das Christenthum, aber daß in beiden Fällen die alte Bildung der neuen
unterlag, war ein deutliches Zeichen, daß sie dieselbe bedürfte. Petrarca, Bo-
caccio, Macchiavell, Leo X., Rafael, Michel Angelo, Ludwig XI., Luther, Shake¬
speare und wie die Begründer der neueren Zeit sonst heißen mögen, die trotz
ihrer ungeheuren Verschiedenheit der moderne Ultramontanismus mit dem gleichen
Bannfluch belegt, sie waren alle keine willkürlichen Neuerer, sondern ihre Er¬
scheinung war ein schlagendes Zeugniß dafür, daß der Tag gekommen war,
wo die alte Bildung in sich selbst zusammenstürzen mußte. Und diese gewaltige
Revolution in- dem Bewußtsein der germanischen Völker ist nicht ein Zeichen
von der Schwäche der Germanen, sondern von ihrer historischen Bildungs¬
fähigkeit. Völker ohne innere Revolution, wie die Wilden einerseits, die Chi¬
nesen andrerseits, gehören nicht in die Geschichte.

Wir kommen auf den zweiten Punkt. Wir stimmen mit Herrn Reichens-
perger vollkommen darin überein, daß der Grundsatz, die Kunst sei um ihrer
selbst willen da, ein falscher ist; und was er über den akademischen Stil, über
Museen und Kunstvereine u. s, w. sagt, findet unsren vollen Beifall. Gewiß
wird die wahre classische Kunst nur dann hervorgehen, wenn sie dem innern
Leben des Volks einen Ausdruck gibt, wenn sie seinen Bedürfnissen und Idealen
entspricht. In dieser Beziehung finden wir in der That bei den Griechen, bei
den Spaniern im siebzehnten Jahrhundert, -- aber auch, mit Erlaubniß des
Herrn Reichensperger, bei den Italienern im fünfzehnten und sechzehnten, bei
den Franzosen im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert, einen echterer Ge¬
halt und eine classischere Form als in der Blütezeit unsrer deutschen Kunst, wo
jeder sich seine Götter nach eignem Bilde schnitzte.

Allein wir erlauben uns die Frage an Herrn Reichensperger, was dann
geschehen soll, wenn ein volksthümlicher Inhalt des Bewußtseins, eine sittliche
Tradition, eine feste Form des Cultus und der Ideale nicht vorhanden ist?

Dann wird doch wol der Genius, der schöpferische Kraft in sich fühlt,
seine Ideale selbst hervorzubringen suchen, und da aus nichts nichts wird,
sich an die reifste Bildungösorm anlehnen, die er überhaupt in der Geschichte
antrifft.

Das thaten die akademischen Künstler in der Plastik, wie Goethe und
Schiller in der Poesie? Sie wandten sich zu der heidnischen Kunst, weil aus den
nationalen Formen die Bildung und das Ideal gewichen war. Da erhielt die Kunst
jenen Beruf, der ihr keineswegs angeboren und immanent ist, den sie aber unter


wende, so befriedigende Cultur des Mittelalters keineswegs das war, wofür
sie sich ausgab; daß sie vielmehr von den tiefsten Widersprüchen zerrissen war,
und daß sie die Wiedcrentdeckung des Alterthums ebenso postulirte, wie das
heidnische Alterthum die christliche Offenbarung. Zwar hat das Mittelalter
den Humanismus ebensowenig aus sich heraus hervorzubringen vermocht, als
Rom das Christenthum, aber daß in beiden Fällen die alte Bildung der neuen
unterlag, war ein deutliches Zeichen, daß sie dieselbe bedürfte. Petrarca, Bo-
caccio, Macchiavell, Leo X., Rafael, Michel Angelo, Ludwig XI., Luther, Shake¬
speare und wie die Begründer der neueren Zeit sonst heißen mögen, die trotz
ihrer ungeheuren Verschiedenheit der moderne Ultramontanismus mit dem gleichen
Bannfluch belegt, sie waren alle keine willkürlichen Neuerer, sondern ihre Er¬
scheinung war ein schlagendes Zeugniß dafür, daß der Tag gekommen war,
wo die alte Bildung in sich selbst zusammenstürzen mußte. Und diese gewaltige
Revolution in- dem Bewußtsein der germanischen Völker ist nicht ein Zeichen
von der Schwäche der Germanen, sondern von ihrer historischen Bildungs¬
fähigkeit. Völker ohne innere Revolution, wie die Wilden einerseits, die Chi¬
nesen andrerseits, gehören nicht in die Geschichte.

Wir kommen auf den zweiten Punkt. Wir stimmen mit Herrn Reichens-
perger vollkommen darin überein, daß der Grundsatz, die Kunst sei um ihrer
selbst willen da, ein falscher ist; und was er über den akademischen Stil, über
Museen und Kunstvereine u. s, w. sagt, findet unsren vollen Beifall. Gewiß
wird die wahre classische Kunst nur dann hervorgehen, wenn sie dem innern
Leben des Volks einen Ausdruck gibt, wenn sie seinen Bedürfnissen und Idealen
entspricht. In dieser Beziehung finden wir in der That bei den Griechen, bei
den Spaniern im siebzehnten Jahrhundert, — aber auch, mit Erlaubniß des
Herrn Reichensperger, bei den Italienern im fünfzehnten und sechzehnten, bei
den Franzosen im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert, einen echterer Ge¬
halt und eine classischere Form als in der Blütezeit unsrer deutschen Kunst, wo
jeder sich seine Götter nach eignem Bilde schnitzte.

Allein wir erlauben uns die Frage an Herrn Reichensperger, was dann
geschehen soll, wenn ein volksthümlicher Inhalt des Bewußtseins, eine sittliche
Tradition, eine feste Form des Cultus und der Ideale nicht vorhanden ist?

Dann wird doch wol der Genius, der schöpferische Kraft in sich fühlt,
seine Ideale selbst hervorzubringen suchen, und da aus nichts nichts wird,
sich an die reifste Bildungösorm anlehnen, die er überhaupt in der Geschichte
antrifft.

Das thaten die akademischen Künstler in der Plastik, wie Goethe und
Schiller in der Poesie? Sie wandten sich zu der heidnischen Kunst, weil aus den
nationalen Formen die Bildung und das Ideal gewichen war. Da erhielt die Kunst
jenen Beruf, der ihr keineswegs angeboren und immanent ist, den sie aber unter


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[0146] wende, so befriedigende Cultur des Mittelalters keineswegs das war, wofür sie sich ausgab; daß sie vielmehr von den tiefsten Widersprüchen zerrissen war, und daß sie die Wiedcrentdeckung des Alterthums ebenso postulirte, wie das heidnische Alterthum die christliche Offenbarung. Zwar hat das Mittelalter den Humanismus ebensowenig aus sich heraus hervorzubringen vermocht, als Rom das Christenthum, aber daß in beiden Fällen die alte Bildung der neuen unterlag, war ein deutliches Zeichen, daß sie dieselbe bedürfte. Petrarca, Bo- caccio, Macchiavell, Leo X., Rafael, Michel Angelo, Ludwig XI., Luther, Shake¬ speare und wie die Begründer der neueren Zeit sonst heißen mögen, die trotz ihrer ungeheuren Verschiedenheit der moderne Ultramontanismus mit dem gleichen Bannfluch belegt, sie waren alle keine willkürlichen Neuerer, sondern ihre Er¬ scheinung war ein schlagendes Zeugniß dafür, daß der Tag gekommen war, wo die alte Bildung in sich selbst zusammenstürzen mußte. Und diese gewaltige Revolution in- dem Bewußtsein der germanischen Völker ist nicht ein Zeichen von der Schwäche der Germanen, sondern von ihrer historischen Bildungs¬ fähigkeit. Völker ohne innere Revolution, wie die Wilden einerseits, die Chi¬ nesen andrerseits, gehören nicht in die Geschichte. Wir kommen auf den zweiten Punkt. Wir stimmen mit Herrn Reichens- perger vollkommen darin überein, daß der Grundsatz, die Kunst sei um ihrer selbst willen da, ein falscher ist; und was er über den akademischen Stil, über Museen und Kunstvereine u. s, w. sagt, findet unsren vollen Beifall. Gewiß wird die wahre classische Kunst nur dann hervorgehen, wenn sie dem innern Leben des Volks einen Ausdruck gibt, wenn sie seinen Bedürfnissen und Idealen entspricht. In dieser Beziehung finden wir in der That bei den Griechen, bei den Spaniern im siebzehnten Jahrhundert, — aber auch, mit Erlaubniß des Herrn Reichensperger, bei den Italienern im fünfzehnten und sechzehnten, bei den Franzosen im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert, einen echterer Ge¬ halt und eine classischere Form als in der Blütezeit unsrer deutschen Kunst, wo jeder sich seine Götter nach eignem Bilde schnitzte. Allein wir erlauben uns die Frage an Herrn Reichensperger, was dann geschehen soll, wenn ein volksthümlicher Inhalt des Bewußtseins, eine sittliche Tradition, eine feste Form des Cultus und der Ideale nicht vorhanden ist? Dann wird doch wol der Genius, der schöpferische Kraft in sich fühlt, seine Ideale selbst hervorzubringen suchen, und da aus nichts nichts wird, sich an die reifste Bildungösorm anlehnen, die er überhaupt in der Geschichte antrifft. Das thaten die akademischen Künstler in der Plastik, wie Goethe und Schiller in der Poesie? Sie wandten sich zu der heidnischen Kunst, weil aus den nationalen Formen die Bildung und das Ideal gewichen war. Da erhielt die Kunst jenen Beruf, der ihr keineswegs angeboren und immanent ist, den sie aber unter

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/146>, abgerufen am 22.07.2024.