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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

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wendeten Giebelschmuck, dieselbe einzig dem "Geschäft" , gewidmete Straßen-
fronte, an welcher über weiten Thorwegen Speicherthüren, Lagerlucken und
Krahnstöcke unregelmäßig bis inS oberste Gestock emporsteigen, während vor¬
hanglose, wohlvergitterte Schreibstubensenster daneben auf uns niederblicken.
So eng. sind häufig die Straßen, daß aus den Schreibstuben den ganzen Tag
eine trübe Lampe hervorflimmcrt; und dennoch begrüßt man sie freudig. Denn
da drin ist noch etwas vom alten, stillen, aber großen Geschäftsverkehr übrig,
während anderwärts die Comptoirs jahraus jahrein mit Bietern versetzt sind,
die vorragenden Krahnbalken abgebrochen und angefault, die großen Thorwege
von Spinngeweben überzogen. Wenn auch hier und da ein Verkaufsladen
seine glitzernden Schaufenster einbaute in solch ein Haus, so sieht es aus, nicht
als ob er dessen verborgenen Reichthum hervorglänzen ließe, sondern als ob er
die letzten Neste davon feilböte. Ja, es thut fast wohl, daß die alten, düster¬
stolzen Gebäude immer seltener werden, jemehr man aus dem Innern gegen
die Säume der Stadt hinkommt. Die charakterlose Eleganz des Petersburger
Häusergeschmacks paßt besser zum modernen Kleinverkehr. Dort beleben sich
auch die Straßen wieder. Die russischen, esthnischen, finnischen Trachten,
welche nebst Militär- und Civiluniformen den bürgerlichen Rock fast verschwin¬
den lassen, bezeugen wenigstens, daß nichts"lies im Absterben sei, wenn auch
das deutsche und althanseatische Bürgerthum. Es ist aber ein "deutscher Trost".

Tretzdcm hätte unrecht, wer glauben möchte, dahinten im Stadtkern sei
mit der Geschäftsrüstigkeit des Großhandels auch das alte innige Familien¬
leben verschmachtet, von welchem Revals frühere Zeilen kaum Rühmliches genug
zu berichten wußten. In die Straße blickt davon freilich nichts. Es ist ein
Hinterstubenleben'im wörtlichsten Sinne. Die alte Zeit fühlte überhaupt für
ihr häusliches Leben nicht das gleiche Bedürfniß wie unsre Gegenwart nach
Luft und Licht, noch weniger nach Verbindungen und Beziehungen mit dem
allgemeinen Verkehr der Straßen und Plätze. Sie ließ in den Städten kaum
einen offnen Raum, außer dem Marktplatze und vor den Pforten der Kirchen,
zwischen den Gräbern. Das ist nun im alten Neval besonders charakteristisch
ausgeprägt. Alle Familienzimmer seiner Häuser öffnen ihre Thüren und
Fenster gegen den Hofraum, hinter welchem nur selten ein kleines grünes
Plätzchen mit Bäumen hervorlugt. Natürlich münden auch die Zugänge zu
diesen Familienräumen nicht etwa im Innern des Hauses auf einen gemein¬
samen Treppenbau, sondern es läuft eine hölzerne Galerie vor jedem Stockwerk
hin, auf welche, die freie Treppe aus dem Hose hinaufsteigt. Und weil die
Galerie meistens gedeckt ist, bleibt den Zimmern eben kein überflüssiges Licht.
Dieser Mangel an Licht, sowie die Gewißheit, keinem fremden Neugierblick aus¬
gesetzt zu sein, hat ferner die Gewohnheit herbeigeführt, die Zimmer ohne Vor¬
hänge zu lassen. Dabei ist keine Stube der andern gleich an Höhe und


wendeten Giebelschmuck, dieselbe einzig dem „Geschäft" , gewidmete Straßen-
fronte, an welcher über weiten Thorwegen Speicherthüren, Lagerlucken und
Krahnstöcke unregelmäßig bis inS oberste Gestock emporsteigen, während vor¬
hanglose, wohlvergitterte Schreibstubensenster daneben auf uns niederblicken.
So eng. sind häufig die Straßen, daß aus den Schreibstuben den ganzen Tag
eine trübe Lampe hervorflimmcrt; und dennoch begrüßt man sie freudig. Denn
da drin ist noch etwas vom alten, stillen, aber großen Geschäftsverkehr übrig,
während anderwärts die Comptoirs jahraus jahrein mit Bietern versetzt sind,
die vorragenden Krahnbalken abgebrochen und angefault, die großen Thorwege
von Spinngeweben überzogen. Wenn auch hier und da ein Verkaufsladen
seine glitzernden Schaufenster einbaute in solch ein Haus, so sieht es aus, nicht
als ob er dessen verborgenen Reichthum hervorglänzen ließe, sondern als ob er
die letzten Neste davon feilböte. Ja, es thut fast wohl, daß die alten, düster¬
stolzen Gebäude immer seltener werden, jemehr man aus dem Innern gegen
die Säume der Stadt hinkommt. Die charakterlose Eleganz des Petersburger
Häusergeschmacks paßt besser zum modernen Kleinverkehr. Dort beleben sich
auch die Straßen wieder. Die russischen, esthnischen, finnischen Trachten,
welche nebst Militär- und Civiluniformen den bürgerlichen Rock fast verschwin¬
den lassen, bezeugen wenigstens, daß nichts«lies im Absterben sei, wenn auch
das deutsche und althanseatische Bürgerthum. Es ist aber ein „deutscher Trost".

Tretzdcm hätte unrecht, wer glauben möchte, dahinten im Stadtkern sei
mit der Geschäftsrüstigkeit des Großhandels auch das alte innige Familien¬
leben verschmachtet, von welchem Revals frühere Zeilen kaum Rühmliches genug
zu berichten wußten. In die Straße blickt davon freilich nichts. Es ist ein
Hinterstubenleben'im wörtlichsten Sinne. Die alte Zeit fühlte überhaupt für
ihr häusliches Leben nicht das gleiche Bedürfniß wie unsre Gegenwart nach
Luft und Licht, noch weniger nach Verbindungen und Beziehungen mit dem
allgemeinen Verkehr der Straßen und Plätze. Sie ließ in den Städten kaum
einen offnen Raum, außer dem Marktplatze und vor den Pforten der Kirchen,
zwischen den Gräbern. Das ist nun im alten Neval besonders charakteristisch
ausgeprägt. Alle Familienzimmer seiner Häuser öffnen ihre Thüren und
Fenster gegen den Hofraum, hinter welchem nur selten ein kleines grünes
Plätzchen mit Bäumen hervorlugt. Natürlich münden auch die Zugänge zu
diesen Familienräumen nicht etwa im Innern des Hauses auf einen gemein¬
samen Treppenbau, sondern es läuft eine hölzerne Galerie vor jedem Stockwerk
hin, auf welche, die freie Treppe aus dem Hose hinaufsteigt. Und weil die
Galerie meistens gedeckt ist, bleibt den Zimmern eben kein überflüssiges Licht.
Dieser Mangel an Licht, sowie die Gewißheit, keinem fremden Neugierblick aus¬
gesetzt zu sein, hat ferner die Gewohnheit herbeigeführt, die Zimmer ohne Vor¬
hänge zu lassen. Dabei ist keine Stube der andern gleich an Höhe und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/138>, abgerufen am 23.07.2024.