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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

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welcher namentlich die kurischen Adelsgesellschaften auszeichnet. Vielmehr übt
ängstliche Rang- und Würderücksicht, welche dort vor dem freiherrlichen Gleich¬
heilsbewußtsein aller nicht aufkommen kann, hier schon eine außerordentliche
Kraft, Selbst in Petersburg hat man sich mehr davon emancipirt, indem man
in den Gesellschaften die Titel gänzlich beseitigte und nur etwa der Ercellenz
noch ausnahmsweise einige Betonung gibt. In Neval ist dagegen das baltische
Freiherrlichkeitsbewußlsein nicht mehr stolz genug, um den TschinorganiSmuS
zu ignoriren und das Tschinbewußtsein noch nicht berechtigt genug, um dem
baltischen Baronat seine Huldigungen vorenthalten zu können. Daher mag
es kommen, daß auch in gemischten Kreisen die Herrn und Damen sich fast
ängstlich voneinander scheiden, bis endlich die Mittags- oder Abendtafel eine
bunte Reihe erzwingt, oder die Tanzmusik gestattet, eine Dame eiligst zu einer
Tour zu rauben, um sie nach deren Beendigung ebenso eilig der schützenden
Mutter oder Duenna zurückzustellen. Selbst die nordische Körperschönheit
erscheint weder so auffallend, noch ein so allgemeines Erbtheil, wie z. B. in
den vornehmen Gesellschaften Kurlands. Bei den Männern ist vie freie Frische
häufiger in Militäruniformen eingezwängt, der Bart nach Norm und Reglement
für Civildiener und Offiziere gezogen, das vom Unterschreiben blöde Auge öfter
hinter Brillengläsern verborgen. Unter den Damen bemerkt man allerdings
viel" schöne Gestalten und üppiges blondes Haar, zugleich aber ein frühes Ver---
welken und baldige Unreinheit des Teints, während sonst die baltische Frauen¬
schönheit sich meistens lang erhält und ein reiner Teint selbst noch die Alters¬
runzeln verschönt. -- Woher dies kommt? Wer mag in solche Geheimnisse
dringen? Wer jedoch längere Zeit die verschiedenen Lebenskreise der drei Ost-
seeprovinzen zu beobachten Gelegenheit hatte, wird nicht ableugnen können,
daß der esthnische Adel-den Vorstellungen am wenigsten entspricht, welche wir
uns gewöhnlich von der äußerlichen Erscheinung dieser Epigonen des Schwert-
ritterthumö machen. Vielleicht ist er grade darum noch erclusiver als die kurische
und livische Adelschaft gegen die "Unadligen" des Landes. Junkerthum ist
überall ohne Edelmannsnatur. >.

Uebrigens wird der Domberg meistens nur im Winter vollzählig bewohnt,
im Sommer nur während der Seebadezeit ab und zu bevölkert. Den übrigen
Theil des Jahres bringen die "Herrn" im kaiserlichen Dienst oder auf ihren
Landgütern zu. Und die weder dem Kaiser dienen, noch eigne Güter besitzen,
sind doch gewöhnlich genugsam mit Verwandten gesegnet, bei denen man die
Sommermonate sparend zu Gaste geht, um im Winter den alten Geschlechts¬
namen, den man trägt, standesgemäß vertreten zu können.

Von dieser Wintersaison des Dvmbergs und her Seebadwochcn lebt heute
fast ausschließlich die "niedere Stadt", wie das eigentliche Reval von den
Bewohnern der "Oberstadt", d. i. des Domberges vorzugsweise genannt wird-


welcher namentlich die kurischen Adelsgesellschaften auszeichnet. Vielmehr übt
ängstliche Rang- und Würderücksicht, welche dort vor dem freiherrlichen Gleich¬
heilsbewußtsein aller nicht aufkommen kann, hier schon eine außerordentliche
Kraft, Selbst in Petersburg hat man sich mehr davon emancipirt, indem man
in den Gesellschaften die Titel gänzlich beseitigte und nur etwa der Ercellenz
noch ausnahmsweise einige Betonung gibt. In Neval ist dagegen das baltische
Freiherrlichkeitsbewußlsein nicht mehr stolz genug, um den TschinorganiSmuS
zu ignoriren und das Tschinbewußtsein noch nicht berechtigt genug, um dem
baltischen Baronat seine Huldigungen vorenthalten zu können. Daher mag
es kommen, daß auch in gemischten Kreisen die Herrn und Damen sich fast
ängstlich voneinander scheiden, bis endlich die Mittags- oder Abendtafel eine
bunte Reihe erzwingt, oder die Tanzmusik gestattet, eine Dame eiligst zu einer
Tour zu rauben, um sie nach deren Beendigung ebenso eilig der schützenden
Mutter oder Duenna zurückzustellen. Selbst die nordische Körperschönheit
erscheint weder so auffallend, noch ein so allgemeines Erbtheil, wie z. B. in
den vornehmen Gesellschaften Kurlands. Bei den Männern ist vie freie Frische
häufiger in Militäruniformen eingezwängt, der Bart nach Norm und Reglement
für Civildiener und Offiziere gezogen, das vom Unterschreiben blöde Auge öfter
hinter Brillengläsern verborgen. Unter den Damen bemerkt man allerdings
viel" schöne Gestalten und üppiges blondes Haar, zugleich aber ein frühes Ver---
welken und baldige Unreinheit des Teints, während sonst die baltische Frauen¬
schönheit sich meistens lang erhält und ein reiner Teint selbst noch die Alters¬
runzeln verschönt. — Woher dies kommt? Wer mag in solche Geheimnisse
dringen? Wer jedoch längere Zeit die verschiedenen Lebenskreise der drei Ost-
seeprovinzen zu beobachten Gelegenheit hatte, wird nicht ableugnen können,
daß der esthnische Adel-den Vorstellungen am wenigsten entspricht, welche wir
uns gewöhnlich von der äußerlichen Erscheinung dieser Epigonen des Schwert-
ritterthumö machen. Vielleicht ist er grade darum noch erclusiver als die kurische
und livische Adelschaft gegen die „Unadligen" des Landes. Junkerthum ist
überall ohne Edelmannsnatur. >.

Uebrigens wird der Domberg meistens nur im Winter vollzählig bewohnt,
im Sommer nur während der Seebadezeit ab und zu bevölkert. Den übrigen
Theil des Jahres bringen die „Herrn" im kaiserlichen Dienst oder auf ihren
Landgütern zu. Und die weder dem Kaiser dienen, noch eigne Güter besitzen,
sind doch gewöhnlich genugsam mit Verwandten gesegnet, bei denen man die
Sommermonate sparend zu Gaste geht, um im Winter den alten Geschlechts¬
namen, den man trägt, standesgemäß vertreten zu können.

Von dieser Wintersaison des Dvmbergs und her Seebadwochcn lebt heute
fast ausschließlich die „niedere Stadt", wie das eigentliche Reval von den
Bewohnern der „Oberstadt", d. i. des Domberges vorzugsweise genannt wird-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/136>, abgerufen am 23.07.2024.