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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

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es durch eine Reihe politischer Intriguen, weil sie sich keine Vorstellung davon
macheu konnten, daß die Phantasie und das Gemüth ebenso wichtige Hebel
der geschichtlichen Entwicklung sind, als der Verstand, der Ehrgeiz und andere
handgreifliche Triebfedern. Daß man eine alte Religion nicht so ohne weiteres
wegwerfen kann, wie einen alten Handschuh, wird wol jedermann einsehen.
Auch wo äußere Gewalt und Unterdrückung dazu kommt, muß in der alten
Religion ein Moment sein, welches auf die neue hinweist, und in der neuen
ein Moment, welches Beziehungen zur alten zuläßt. Die neue Religion wird
wie jede Revolution nur scheinbar mit dem alten tabula rasa machen; in der
That wird sie durch ihren neuen Träger eine innere Umwandlung erleiden, die
aus dem scheinbar mechanischen Proceß einen organischen macht, und zwar wird
diese Umwandlung der neuen Religion um so gewaltiger sein, je größer die Ge¬
müthstiefe des Volks ist, dan die neue Religion aufnimmt. Wenn der sittlich
ausgehöhlte, glaubenlose und von Todesschrecken erfüllte Römerstaat dem
Christenthum jene negativ-spiritualistische Richtung gab, welche die heutigen
Gegner des Christenthums allein in demselben finden wollen, so gewann es
dagegen bei den Germanen jenen Reichthum des Gemüths, und jene Bestimmt¬
heit der sittlichen Vorstellungen, die ihm, soweit wir in menschlichen Dingen
überhaupt den Begriff des Unendlichen anwenden dürfen, eine ewige Dauer
verheißen.

Die Bedeutung der Aufgabe, diesen Proceß im Einzelnen durchzuführen,
zuerst nachzuweisen, was in der heidnisch-germanischen Bildung sür Elemente
lagen, die zu einer innern Entwicklung aufforderten, und da diese vom Volk
aus eignen Kräften nicht vollzogen werden konnte, die Empfänglichkeit für eine
fremde, wunderbare Religion hervorbrachten; sodann darzustellen, was das
Christenthum diesem Bedürfniß für entsprechende Bildungsformen entgegen¬
brachte, wie die Apostel des Christenthums diese Momente geltendzumachen
wußten, und wie der Geist des Volks sie innerlich verarbeitete: -- die Be¬
deutung dieser Aufgabe wird von keinem verkannt werden. Das Unternehmen
konnte nur in einer Zeit angestellt werden, wo durch die neueren mythologischen
Forschungen, namentlich durch die Riesenarbeit der Gebrüder Grimm ein un
endliches Material geboten war, an welchem die Übertragung heidnischer Vor¬
stellungen in christliche und umgekehrt versinnlicht werden konnte. -- Das
Unternehmen wurde aber serner nothwendig dadurch, daß die Form und Me¬
thode der bisherigen Forschung jede wirkliche Darstellung ausschloß.

Setzen wir nun hinzu, daß der Verfasser der vorliegenden Schrift eine
gründliche philologische Bildung, eine sehr detaillirte Kenntniß des deutschen
Alterthums und ein eingehendes Studium der christlichen Dogmatik mitbringt;
daß er ferner mit dem größten Ernst bemüht gewesen ist, die Gesichtspunkte,
die man bei den dogmatischen und sittlichen Vorstellungen der Religion anwen-


Grenzboten. IV. -I8si. 15

es durch eine Reihe politischer Intriguen, weil sie sich keine Vorstellung davon
macheu konnten, daß die Phantasie und das Gemüth ebenso wichtige Hebel
der geschichtlichen Entwicklung sind, als der Verstand, der Ehrgeiz und andere
handgreifliche Triebfedern. Daß man eine alte Religion nicht so ohne weiteres
wegwerfen kann, wie einen alten Handschuh, wird wol jedermann einsehen.
Auch wo äußere Gewalt und Unterdrückung dazu kommt, muß in der alten
Religion ein Moment sein, welches auf die neue hinweist, und in der neuen
ein Moment, welches Beziehungen zur alten zuläßt. Die neue Religion wird
wie jede Revolution nur scheinbar mit dem alten tabula rasa machen; in der
That wird sie durch ihren neuen Träger eine innere Umwandlung erleiden, die
aus dem scheinbar mechanischen Proceß einen organischen macht, und zwar wird
diese Umwandlung der neuen Religion um so gewaltiger sein, je größer die Ge¬
müthstiefe des Volks ist, dan die neue Religion aufnimmt. Wenn der sittlich
ausgehöhlte, glaubenlose und von Todesschrecken erfüllte Römerstaat dem
Christenthum jene negativ-spiritualistische Richtung gab, welche die heutigen
Gegner des Christenthums allein in demselben finden wollen, so gewann es
dagegen bei den Germanen jenen Reichthum des Gemüths, und jene Bestimmt¬
heit der sittlichen Vorstellungen, die ihm, soweit wir in menschlichen Dingen
überhaupt den Begriff des Unendlichen anwenden dürfen, eine ewige Dauer
verheißen.

Die Bedeutung der Aufgabe, diesen Proceß im Einzelnen durchzuführen,
zuerst nachzuweisen, was in der heidnisch-germanischen Bildung sür Elemente
lagen, die zu einer innern Entwicklung aufforderten, und da diese vom Volk
aus eignen Kräften nicht vollzogen werden konnte, die Empfänglichkeit für eine
fremde, wunderbare Religion hervorbrachten; sodann darzustellen, was das
Christenthum diesem Bedürfniß für entsprechende Bildungsformen entgegen¬
brachte, wie die Apostel des Christenthums diese Momente geltendzumachen
wußten, und wie der Geist des Volks sie innerlich verarbeitete: — die Be¬
deutung dieser Aufgabe wird von keinem verkannt werden. Das Unternehmen
konnte nur in einer Zeit angestellt werden, wo durch die neueren mythologischen
Forschungen, namentlich durch die Riesenarbeit der Gebrüder Grimm ein un
endliches Material geboten war, an welchem die Übertragung heidnischer Vor¬
stellungen in christliche und umgekehrt versinnlicht werden konnte. — Das
Unternehmen wurde aber serner nothwendig dadurch, daß die Form und Me¬
thode der bisherigen Forschung jede wirkliche Darstellung ausschloß.

Setzen wir nun hinzu, daß der Verfasser der vorliegenden Schrift eine
gründliche philologische Bildung, eine sehr detaillirte Kenntniß des deutschen
Alterthums und ein eingehendes Studium der christlichen Dogmatik mitbringt;
daß er ferner mit dem größten Ernst bemüht gewesen ist, die Gesichtspunkte,
die man bei den dogmatischen und sittlichen Vorstellungen der Religion anwen-


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[0121] es durch eine Reihe politischer Intriguen, weil sie sich keine Vorstellung davon macheu konnten, daß die Phantasie und das Gemüth ebenso wichtige Hebel der geschichtlichen Entwicklung sind, als der Verstand, der Ehrgeiz und andere handgreifliche Triebfedern. Daß man eine alte Religion nicht so ohne weiteres wegwerfen kann, wie einen alten Handschuh, wird wol jedermann einsehen. Auch wo äußere Gewalt und Unterdrückung dazu kommt, muß in der alten Religion ein Moment sein, welches auf die neue hinweist, und in der neuen ein Moment, welches Beziehungen zur alten zuläßt. Die neue Religion wird wie jede Revolution nur scheinbar mit dem alten tabula rasa machen; in der That wird sie durch ihren neuen Träger eine innere Umwandlung erleiden, die aus dem scheinbar mechanischen Proceß einen organischen macht, und zwar wird diese Umwandlung der neuen Religion um so gewaltiger sein, je größer die Ge¬ müthstiefe des Volks ist, dan die neue Religion aufnimmt. Wenn der sittlich ausgehöhlte, glaubenlose und von Todesschrecken erfüllte Römerstaat dem Christenthum jene negativ-spiritualistische Richtung gab, welche die heutigen Gegner des Christenthums allein in demselben finden wollen, so gewann es dagegen bei den Germanen jenen Reichthum des Gemüths, und jene Bestimmt¬ heit der sittlichen Vorstellungen, die ihm, soweit wir in menschlichen Dingen überhaupt den Begriff des Unendlichen anwenden dürfen, eine ewige Dauer verheißen. Die Bedeutung der Aufgabe, diesen Proceß im Einzelnen durchzuführen, zuerst nachzuweisen, was in der heidnisch-germanischen Bildung sür Elemente lagen, die zu einer innern Entwicklung aufforderten, und da diese vom Volk aus eignen Kräften nicht vollzogen werden konnte, die Empfänglichkeit für eine fremde, wunderbare Religion hervorbrachten; sodann darzustellen, was das Christenthum diesem Bedürfniß für entsprechende Bildungsformen entgegen¬ brachte, wie die Apostel des Christenthums diese Momente geltendzumachen wußten, und wie der Geist des Volks sie innerlich verarbeitete: — die Be¬ deutung dieser Aufgabe wird von keinem verkannt werden. Das Unternehmen konnte nur in einer Zeit angestellt werden, wo durch die neueren mythologischen Forschungen, namentlich durch die Riesenarbeit der Gebrüder Grimm ein un endliches Material geboten war, an welchem die Übertragung heidnischer Vor¬ stellungen in christliche und umgekehrt versinnlicht werden konnte. — Das Unternehmen wurde aber serner nothwendig dadurch, daß die Form und Me¬ thode der bisherigen Forschung jede wirkliche Darstellung ausschloß. Setzen wir nun hinzu, daß der Verfasser der vorliegenden Schrift eine gründliche philologische Bildung, eine sehr detaillirte Kenntniß des deutschen Alterthums und ein eingehendes Studium der christlichen Dogmatik mitbringt; daß er ferner mit dem größten Ernst bemüht gewesen ist, die Gesichtspunkte, die man bei den dogmatischen und sittlichen Vorstellungen der Religion anwen- Grenzboten. IV. -I8si. 15

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/121>, abgerufen am 22.07.2024.