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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

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zen u, s. w. , Die Thatsache, die in der Zahl der Leute liesse, welche Christus
mit einer kleinen Anzahl von Fischen speiste, scheint uns ungleich unwichtiger
als die Frage, was sich die Juden zu Christi Zeit unter dem erwarteten Mes¬
sias vorstellten, weil die erste Thatsache uns über die Natur der neuen Reli¬
gion gar nichts lehrt, während das Zweite uns wenigstens zu einem Theil
ihrer Mysterien den Schlüssel gibt,

Uebrigens hat die sogenannte historische Schule, so sehr sie gegen die
philosophische zu Felde zog, sich im ganzen derselben Mittel bedient und den¬
selben Zwecken nachgestrebt. Es kam Niebuhr, Müller u, s. w. ebenso darauf
an, durch die Combination der einzelnen Thatsachen und durch Herbeiziehung
tfer Regeln, die theils aus Analogien, theils aus dem Studium des mensch¬
lichen Geistes überhaupt entsprangen, ein zusammenhängendes Bild von Zu¬
ständen und ihrer Entwicklung zu entwerfen, als den Philosophen sämmtlicher
Schulen. Daß sie auf die Analogie ein größeres Gewicht legten, als Hegel
u, f. w, war an sich noch kein qualitativer Unterschied; denn die Analogie
konnte ihnen doch nicht als bloße Thatsache etwas gelten, sondern nur insofern,
als sich in ihr ein nothwendiges und bleibendes Gesetz der menschlichen Natur
aufschloß, das man aus einzelnen Thatsachen zwar conjiciren, aber nicht fest¬
stellen durfte.

Die Sünden, welche die Philosophie der Geschichte zu allen Zeiten be¬
gangen hat, liegen zu sehr auf der Hand. Einmal hat sie fast immer ge¬
glaubt, durch die Spekulation die strenghistvrische Kritik wenigstens zum Theil
ersetzen zu können, was übrigens der historischen Schule mit ihren Analogien
auch ost genug begegnet ist, sodann hat sie in der Regel einen zu idealen
Standpunkt eingenommen: sie hat entweder wie die Rationalisten und Auf¬
klärer die neueste Bildung der Menschen zum allein giltigen Maßstab gemacht
und die frühere Geschichte so construirt, als ob der Entwicklungsproceß der Men¬
schen zu allen Zeiten der wämliche gewesen sei, woraus natürlich die heilloseste
Verwirrung entstehen mußte; oder sie hat wenigstens dem Urheber der Weltge¬
schichte, gleichviel auf welche Weise sie sich denselben versinnlichen mochte, einen
idealen Zweck untergeschoben, und nach diesem Zweck den Thatsachen Gewalt
angethan, während die wahre Philosophie der Geschichte grade so wie die Natur-
wissenschaft nach Realität zu trachten hat.

Wir halten diese Bemerkungen zum Verständniß des vorliegenden Werks
nicht für überflüssig, weil die Mißverständnisse zu nahe liegen. Bisher hat
die Geschichtschreibung einen der wichtigsten Processe in der Weltgeschichte, die
Christianisirung der Germane", ganz äußerlich behandelt, und zwar kann man das
von den Supranaturalisten ebenso sagen als von den Rationalisten. Die ersten
sahen in dem Factum ein Wunder, womit für das Verständniß, ja auch nur
für die Anschauung desselben nicht viel gewonnen war, die andern erklärten


zen u, s. w. , Die Thatsache, die in der Zahl der Leute liesse, welche Christus
mit einer kleinen Anzahl von Fischen speiste, scheint uns ungleich unwichtiger
als die Frage, was sich die Juden zu Christi Zeit unter dem erwarteten Mes¬
sias vorstellten, weil die erste Thatsache uns über die Natur der neuen Reli¬
gion gar nichts lehrt, während das Zweite uns wenigstens zu einem Theil
ihrer Mysterien den Schlüssel gibt,

Uebrigens hat die sogenannte historische Schule, so sehr sie gegen die
philosophische zu Felde zog, sich im ganzen derselben Mittel bedient und den¬
selben Zwecken nachgestrebt. Es kam Niebuhr, Müller u, s. w. ebenso darauf
an, durch die Combination der einzelnen Thatsachen und durch Herbeiziehung
tfer Regeln, die theils aus Analogien, theils aus dem Studium des mensch¬
lichen Geistes überhaupt entsprangen, ein zusammenhängendes Bild von Zu¬
ständen und ihrer Entwicklung zu entwerfen, als den Philosophen sämmtlicher
Schulen. Daß sie auf die Analogie ein größeres Gewicht legten, als Hegel
u, f. w, war an sich noch kein qualitativer Unterschied; denn die Analogie
konnte ihnen doch nicht als bloße Thatsache etwas gelten, sondern nur insofern,
als sich in ihr ein nothwendiges und bleibendes Gesetz der menschlichen Natur
aufschloß, das man aus einzelnen Thatsachen zwar conjiciren, aber nicht fest¬
stellen durfte.

Die Sünden, welche die Philosophie der Geschichte zu allen Zeiten be¬
gangen hat, liegen zu sehr auf der Hand. Einmal hat sie fast immer ge¬
glaubt, durch die Spekulation die strenghistvrische Kritik wenigstens zum Theil
ersetzen zu können, was übrigens der historischen Schule mit ihren Analogien
auch ost genug begegnet ist, sodann hat sie in der Regel einen zu idealen
Standpunkt eingenommen: sie hat entweder wie die Rationalisten und Auf¬
klärer die neueste Bildung der Menschen zum allein giltigen Maßstab gemacht
und die frühere Geschichte so construirt, als ob der Entwicklungsproceß der Men¬
schen zu allen Zeiten der wämliche gewesen sei, woraus natürlich die heilloseste
Verwirrung entstehen mußte; oder sie hat wenigstens dem Urheber der Weltge¬
schichte, gleichviel auf welche Weise sie sich denselben versinnlichen mochte, einen
idealen Zweck untergeschoben, und nach diesem Zweck den Thatsachen Gewalt
angethan, während die wahre Philosophie der Geschichte grade so wie die Natur-
wissenschaft nach Realität zu trachten hat.

Wir halten diese Bemerkungen zum Verständniß des vorliegenden Werks
nicht für überflüssig, weil die Mißverständnisse zu nahe liegen. Bisher hat
die Geschichtschreibung einen der wichtigsten Processe in der Weltgeschichte, die
Christianisirung der Germane», ganz äußerlich behandelt, und zwar kann man das
von den Supranaturalisten ebenso sagen als von den Rationalisten. Die ersten
sahen in dem Factum ein Wunder, womit für das Verständniß, ja auch nur
für die Anschauung desselben nicht viel gewonnen war, die andern erklärten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/120>, abgerufen am 22.07.2024.