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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

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Thatsachen die Anwendung der Philosophie nicht vermeiden. Was das ^erste
betrifft, so unterscheiden sich die geschichtlichen Thatsachen sehr' wesentlich von
den naturhistorischen Thatsachen/denn die letztern stellen fest, was wirklich da
ist, und haben also für die Bereicherung unsres Geistes einen augenblicklichen,
unmittelbaren Werth, auch wenn sie sich nur auf eine neue Classe von Infu¬
sorien beziehen sollten. Die sogenannte historische Thatsache dagegen hat längst
aufgehört, Thatsache und Wirklichkeit zu sein, wenn man sie als solche feststellt.
Wenn man z. B. heute aus den alten Inschriften herausfindet, daß irgendein
ägyptischer König mit unaussprechlichem Namen irgendeinen assyrischen König
mit gleichfalls unaussprechlichem Namen geschlagen hat, und daß dies bemer¬
kenswerthe Factum zu einer Zeit stattfand, als die Sonne zur Erde diese öde^r
jene Konstellation zeigte, so bleibt diese Thatsache solange ein bloßes Spiel
für Kinder, als man nicht hoffen darf, mit Hilfe derselben Mittel und Wege
zu finden, um auf die Culturentwicklung der Menschheit Schlüsse zu ziehen.
Daß die Geschichte kein bloßer Naritätenkram sein darf, sondern daß sie darauf
ausgehen muß, das Leben des freilich sehr complicirten Individuums, welches
wir Menschheit nennen, als eine Continuität darzustellen, darüber kann heute
gar nicht ernsthaft mehr gestritten werden. Aber auch den zweiten Punkt wird
man uns bei einiger Ueberlegung zugeben. Grade in den wichtigsten Ent¬
wicklungsperioden der Menschheit können die Thatsachen nicht so ohne weite¬
res durch philologische Kritik und ähnliches festgestellt werden. So ist z. B.
die Entstehung'jeder neuen Religion, auch wenn sie, wie das Christenthum,
in eine Zeit fällt, die in andrer Beziehung hinlänglich aufgehellt ist, in tiefes
Dunkel gehüllt, und die Quellen derselben werden philosophisch, d. h. mit sorg¬
fältigem Studium über die Natur des menschlichen Geistes durchforscht werden
müssen, wenn man überhaupt aus ihnen etwas machen,' sie zur Feststellung
einer sogenannten Thatsache benutzen will. Wenn man z. B. früher die Evan¬
gelien miteinander verglich, und in einzelnen wesentlichen und unwesentlichen
Punkten Abweichungen und Widersprüche antraf, so war diese Entdeckung wol
insofern von Wichtigkeit, als dadurch die Meinung widerlegt wurde, der hei¬
lige Geist habe den Evangelisten ihre Geschichten in die Feder dictirt, weil die
Annahme, daß der heilige Geist sich widersprechen könnte, wenigstens nicht
viel Wahrscheinlichkeit für sich hat. Aber wenn man mit dieser Methode über
den negativen Zweck hinausgehen und positive Thatsachen feststellen wollte, so
kam man in der Regel zu sehr einfältigen Resultaten. Um die Thatsachen der
Urgeschichte des Christenthums festzustellen, (nicht für die Kirche, sondern für
die Wissenschaft,) wird es viel wichtiger sein, die Natur der menschlichen Reli¬
giosität überhaupt, den Zustand der religiösen Entwicklung zu Christi Zeit und
ähnliches, was ins philosophische Gebiet gehört, festzustellen, als Thatsachen
aus dem einen Evangelisten in den andern einzuschalten, andres auszumer-


Thatsachen die Anwendung der Philosophie nicht vermeiden. Was das ^erste
betrifft, so unterscheiden sich die geschichtlichen Thatsachen sehr' wesentlich von
den naturhistorischen Thatsachen/denn die letztern stellen fest, was wirklich da
ist, und haben also für die Bereicherung unsres Geistes einen augenblicklichen,
unmittelbaren Werth, auch wenn sie sich nur auf eine neue Classe von Infu¬
sorien beziehen sollten. Die sogenannte historische Thatsache dagegen hat längst
aufgehört, Thatsache und Wirklichkeit zu sein, wenn man sie als solche feststellt.
Wenn man z. B. heute aus den alten Inschriften herausfindet, daß irgendein
ägyptischer König mit unaussprechlichem Namen irgendeinen assyrischen König
mit gleichfalls unaussprechlichem Namen geschlagen hat, und daß dies bemer¬
kenswerthe Factum zu einer Zeit stattfand, als die Sonne zur Erde diese öde^r
jene Konstellation zeigte, so bleibt diese Thatsache solange ein bloßes Spiel
für Kinder, als man nicht hoffen darf, mit Hilfe derselben Mittel und Wege
zu finden, um auf die Culturentwicklung der Menschheit Schlüsse zu ziehen.
Daß die Geschichte kein bloßer Naritätenkram sein darf, sondern daß sie darauf
ausgehen muß, das Leben des freilich sehr complicirten Individuums, welches
wir Menschheit nennen, als eine Continuität darzustellen, darüber kann heute
gar nicht ernsthaft mehr gestritten werden. Aber auch den zweiten Punkt wird
man uns bei einiger Ueberlegung zugeben. Grade in den wichtigsten Ent¬
wicklungsperioden der Menschheit können die Thatsachen nicht so ohne weite¬
res durch philologische Kritik und ähnliches festgestellt werden. So ist z. B.
die Entstehung'jeder neuen Religion, auch wenn sie, wie das Christenthum,
in eine Zeit fällt, die in andrer Beziehung hinlänglich aufgehellt ist, in tiefes
Dunkel gehüllt, und die Quellen derselben werden philosophisch, d. h. mit sorg¬
fältigem Studium über die Natur des menschlichen Geistes durchforscht werden
müssen, wenn man überhaupt aus ihnen etwas machen,' sie zur Feststellung
einer sogenannten Thatsache benutzen will. Wenn man z. B. früher die Evan¬
gelien miteinander verglich, und in einzelnen wesentlichen und unwesentlichen
Punkten Abweichungen und Widersprüche antraf, so war diese Entdeckung wol
insofern von Wichtigkeit, als dadurch die Meinung widerlegt wurde, der hei¬
lige Geist habe den Evangelisten ihre Geschichten in die Feder dictirt, weil die
Annahme, daß der heilige Geist sich widersprechen könnte, wenigstens nicht
viel Wahrscheinlichkeit für sich hat. Aber wenn man mit dieser Methode über
den negativen Zweck hinausgehen und positive Thatsachen feststellen wollte, so
kam man in der Regel zu sehr einfältigen Resultaten. Um die Thatsachen der
Urgeschichte des Christenthums festzustellen, (nicht für die Kirche, sondern für
die Wissenschaft,) wird es viel wichtiger sein, die Natur der menschlichen Reli¬
giosität überhaupt, den Zustand der religiösen Entwicklung zu Christi Zeit und
ähnliches, was ins philosophische Gebiet gehört, festzustellen, als Thatsachen
aus dem einen Evangelisten in den andern einzuschalten, andres auszumer-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/119>, abgerufen am 22.07.2024.