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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

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Die Gesellschaft auf dem Lande (182S) zeigt in ihrer humoristischen
Redeweise mehr Anklang an Jean Paul, als wir sonst bei Tieck gewohnt sind,
wenn auch die Ironie nicht fehlt. Charakteristisch ist in dieser Geschichte, die
übrigens recht unbedeutend ist, nur die Figur des ehrlichen Pommer, des Guts-
verwalters, dessen ganzes Leben sich auf die Erinnerungen an den siebenjährigen
Krieg, den er als Husar mitgemacht, zusammenzieht. Er lebt mit einer rüh¬
renden Leidenschaftlichkeit in diesen Erinnerungen, und selbst der Stolz, mit dem
er einen ungeheuren Zopf trägt, gewissermaßen das Symbol jener großen Zeit, wird
uns dadurch begreiflich und erträglich. Nun schneidet ihm ein Spaßvogel, der
ihn schon früher fortwährend belästigt, einmal heimlich diesen Zopf ab. Der
ehrliche Husar wird davon so schmerzlich getroffen, daß er in eine Krankheit
verfällt und stirbt. Nach seinem Tode ergibt sich, daß sein ganzes Leben eine
Lüge war, daß er nie den siebenjährigen Krieg mitgemacht hat, nie Husar ge¬
wesen ist, sondern ein ehrlicher Schneider. -- Aller Glaube und aller Inhalt
dieses Lebens ist Wind! Das ist auch dies Mal der rothe Fade", der sich durch
diese .seltsamen Erfindungen zieht. -- Uebrigens zeigt sich hier die Manier auch
im Stil schon viel unangenehmer, als in den frühern Novellen. Das Ge¬
machte und Unnatürliche in der Redeweise der einzelnen Personen, von denen
keine so spricht, wie es ihrem Stande und ihrer Bildung angemessen wäre,
wird dies Mal durch den anmuthigen Schleier der Dichtung kaum mehr versteckt.

Glück giebt Verstand (1826). In dieser Novelle wird, wie früher
die Lüge und der Wahnsinn, die Einfalt und Schwäche emancipirt. Ein auf¬
fallend unbedeutender Mensch, sowol seinem Verstand als seinem Charakter
nach, macht Glück und wird zu den höchsten Ehrenstellen des Landes befördert.
Offenbar hat dem Dichter bei dieser Erfindung das Volksmärchen vorgeschwebt,
in welchem gleichfalls in der Regel die treuherzige, resolute und gutmüthige
Einfalt den Preis über List, Verschmitztheit und Gewalt davon trägt; aber
was im Märchen das natürlichste ist, erscheint im Rahmen der Novelle, die
uns in bestimmte gesellschaftliche Zustände einführen soll , als sinnlos und ab¬
geschmackt. Aus dieser Novelle kann man recht sehen, wie wenig Einsicht der
Dichter trotz seiner scharfen Ironie in das wirkliche Leben hat. Alle Einzeln¬
heiten der Begebenheit, die er uns erzählt, sind unnatürlich und unmöglich,
und dabei werden wir doch zu sehr an die Details der Wirklichkeit erinnert,
um uns unbefangen dem träumerischen Spiel der Phantasie hingeben zu kön¬
nen. Wahrscheinlich hatte Tieck das Leben eines Taugenichts von Eichendorf
im Auge, das ein Jahr vorher erschienen war. Aber in diesem hatte der
Dichter die Zauberwelt der Romantik mit so hellen, saftigen Farben auszumalen
gewußt, daß man in der That, trotz der scheinbaren Beziehung auf die Wirk¬
lichkeit, dieselbe ganz aus den Augen verlor.

Der 1ö. November"(l827). Dies Mal ist ein Wahnsinniger oder viel-


Die Gesellschaft auf dem Lande (182S) zeigt in ihrer humoristischen
Redeweise mehr Anklang an Jean Paul, als wir sonst bei Tieck gewohnt sind,
wenn auch die Ironie nicht fehlt. Charakteristisch ist in dieser Geschichte, die
übrigens recht unbedeutend ist, nur die Figur des ehrlichen Pommer, des Guts-
verwalters, dessen ganzes Leben sich auf die Erinnerungen an den siebenjährigen
Krieg, den er als Husar mitgemacht, zusammenzieht. Er lebt mit einer rüh¬
renden Leidenschaftlichkeit in diesen Erinnerungen, und selbst der Stolz, mit dem
er einen ungeheuren Zopf trägt, gewissermaßen das Symbol jener großen Zeit, wird
uns dadurch begreiflich und erträglich. Nun schneidet ihm ein Spaßvogel, der
ihn schon früher fortwährend belästigt, einmal heimlich diesen Zopf ab. Der
ehrliche Husar wird davon so schmerzlich getroffen, daß er in eine Krankheit
verfällt und stirbt. Nach seinem Tode ergibt sich, daß sein ganzes Leben eine
Lüge war, daß er nie den siebenjährigen Krieg mitgemacht hat, nie Husar ge¬
wesen ist, sondern ein ehrlicher Schneider. — Aller Glaube und aller Inhalt
dieses Lebens ist Wind! Das ist auch dies Mal der rothe Fade», der sich durch
diese .seltsamen Erfindungen zieht. — Uebrigens zeigt sich hier die Manier auch
im Stil schon viel unangenehmer, als in den frühern Novellen. Das Ge¬
machte und Unnatürliche in der Redeweise der einzelnen Personen, von denen
keine so spricht, wie es ihrem Stande und ihrer Bildung angemessen wäre,
wird dies Mal durch den anmuthigen Schleier der Dichtung kaum mehr versteckt.

Glück giebt Verstand (1826). In dieser Novelle wird, wie früher
die Lüge und der Wahnsinn, die Einfalt und Schwäche emancipirt. Ein auf¬
fallend unbedeutender Mensch, sowol seinem Verstand als seinem Charakter
nach, macht Glück und wird zu den höchsten Ehrenstellen des Landes befördert.
Offenbar hat dem Dichter bei dieser Erfindung das Volksmärchen vorgeschwebt,
in welchem gleichfalls in der Regel die treuherzige, resolute und gutmüthige
Einfalt den Preis über List, Verschmitztheit und Gewalt davon trägt; aber
was im Märchen das natürlichste ist, erscheint im Rahmen der Novelle, die
uns in bestimmte gesellschaftliche Zustände einführen soll , als sinnlos und ab¬
geschmackt. Aus dieser Novelle kann man recht sehen, wie wenig Einsicht der
Dichter trotz seiner scharfen Ironie in das wirkliche Leben hat. Alle Einzeln¬
heiten der Begebenheit, die er uns erzählt, sind unnatürlich und unmöglich,
und dabei werden wir doch zu sehr an die Details der Wirklichkeit erinnert,
um uns unbefangen dem träumerischen Spiel der Phantasie hingeben zu kön¬
nen. Wahrscheinlich hatte Tieck das Leben eines Taugenichts von Eichendorf
im Auge, das ein Jahr vorher erschienen war. Aber in diesem hatte der
Dichter die Zauberwelt der Romantik mit so hellen, saftigen Farben auszumalen
gewußt, daß man in der That, trotz der scheinbaren Beziehung auf die Wirk¬
lichkeit, dieselbe ganz aus den Augen verlor.

Der 1ö. November»(l827). Dies Mal ist ein Wahnsinniger oder viel-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/111>, abgerufen am 02.10.2024.