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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band.

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in den Momenten des Unglücks, des Seelenschmerzes.und verstehen es, durch
charakteristische Behandlung das Interesse des Beobachters zu fesseln. Die arme
Bäuerin, in wilden Schmerz aufgelöst über der Wiege ihres soeben gestorbenen
Kindes, die greise Mutter, verzweiflungsvoll zum Himmel betend am Todes¬
bette ihres einzigen Sohnes sind die bevorzugten Stoffe dieser Künstler, Sie
wollen so wenig durch Jdealisirung und glänzende Farben wirken als Jeremias
Gotthelf, sondern nur durch die Naturwahrheit und durch die energische Dar¬
stellung des Affectes. Läßt sich daher auch vom Standpunkte der Aesthetik
manches gegen ihre Compositionen einwenden, so stehen sie doch durch den
Gedankenreichthum, der überall aus ihren Bildern hervorblickt, weit über den
flachen Salonmalcrn, die durch brillante Technik die Armuth der Erfindung
zu verdecken suchen, Repräsentanten dieser Manier hat Genf geliefert, das in
dieser Beziehung seinem Namen "das schweizerische Paris" Ehre macht. Eine
merkwürdige Erscheinung dieser Art ist auch der Appenzeller Zuberbühler; er
hat in Paris zu einem Salvnmaler sich gebildet, der an sich unbedeutenden
Stoffen durch die glänzende Behandlung der Farbe und üppige Carnation den
Reiz zu geben versteht, der den Kreisen, für die er malt, genehm ist.

Die deutsche Schweiz hat zwei Repräsentanten des Genres bei der Aus¬
stellung, Rittmeier von Se. Gallen und Vogel von Zürich. Nehmen die
französischen Schweizer ihre Stoffe vorzugsweise aus dem Canton Bern, so
holen dagegen die Genremaler der deutschen Schweiz ihre Stoffe am liebsten
aus dem Appenzeller Lande; fassen jene die düstern Momente des Lebens aus,
so wählen diese am liebsten heitere Scenen, denen sie durch Beimischung eines
schalkhaften Zuges Reiz zir geben suchen. Die Ankunft eines Kapuzinerpaares
in einem Dorfe Immer-Rhodeus, die gemüthliche Unterhaltung eines Hirten¬
jungen mit der Magd des Sennen sind Stoffe, die ihnen passen.

Eine Mittelgattung zwischen dem Genre und der Landschaftsmalerei bilden
Kollers aus Zürich "Bettelkind" und Eberliö in München "Schafe, von einem
Geier verfolgt". Kollers knurrige Hunde, die den Zugang zu der Hausglocke
verlegen, sind eines der besten Bilder der Ausstellung, und ein socialistischer
Nachläufer von18i8 könnte sich vor denselben zu allerlei menschenfreundlichen
Betrachtungen veranlaßt fühlen, so gutgenährt, brummig und hochmüthig auf
ihre Anstellung als Lakaien weisen sie mit ihren Zähnen das vor Hunger und
Kälte zitternde Menschenkind von der Hausthüre zurück. Ebcrlis verfolgte
Schafe sind ein echtes "Thierleben aus'der Alpenwelt", ein Genrebild aus
dem Thierleben voll Charakter und mit einer großartigen Naturauffassung.
Hier ist eine Seite der Natur aufgefaßt, welche die schweizerischen Künstler bis
jetzt viel zu wenig geachtet hatten, und wo die schweizerische so. vielgestal¬
tige Gebirgswelt eine Fülle neuer Motive bittet.

Wol zwei Drittheile der ausgestellten Gemälde gehören der Landschafts-


in den Momenten des Unglücks, des Seelenschmerzes.und verstehen es, durch
charakteristische Behandlung das Interesse des Beobachters zu fesseln. Die arme
Bäuerin, in wilden Schmerz aufgelöst über der Wiege ihres soeben gestorbenen
Kindes, die greise Mutter, verzweiflungsvoll zum Himmel betend am Todes¬
bette ihres einzigen Sohnes sind die bevorzugten Stoffe dieser Künstler, Sie
wollen so wenig durch Jdealisirung und glänzende Farben wirken als Jeremias
Gotthelf, sondern nur durch die Naturwahrheit und durch die energische Dar¬
stellung des Affectes. Läßt sich daher auch vom Standpunkte der Aesthetik
manches gegen ihre Compositionen einwenden, so stehen sie doch durch den
Gedankenreichthum, der überall aus ihren Bildern hervorblickt, weit über den
flachen Salonmalcrn, die durch brillante Technik die Armuth der Erfindung
zu verdecken suchen, Repräsentanten dieser Manier hat Genf geliefert, das in
dieser Beziehung seinem Namen „das schweizerische Paris" Ehre macht. Eine
merkwürdige Erscheinung dieser Art ist auch der Appenzeller Zuberbühler; er
hat in Paris zu einem Salvnmaler sich gebildet, der an sich unbedeutenden
Stoffen durch die glänzende Behandlung der Farbe und üppige Carnation den
Reiz zu geben versteht, der den Kreisen, für die er malt, genehm ist.

Die deutsche Schweiz hat zwei Repräsentanten des Genres bei der Aus¬
stellung, Rittmeier von Se. Gallen und Vogel von Zürich. Nehmen die
französischen Schweizer ihre Stoffe vorzugsweise aus dem Canton Bern, so
holen dagegen die Genremaler der deutschen Schweiz ihre Stoffe am liebsten
aus dem Appenzeller Lande; fassen jene die düstern Momente des Lebens aus,
so wählen diese am liebsten heitere Scenen, denen sie durch Beimischung eines
schalkhaften Zuges Reiz zir geben suchen. Die Ankunft eines Kapuzinerpaares
in einem Dorfe Immer-Rhodeus, die gemüthliche Unterhaltung eines Hirten¬
jungen mit der Magd des Sennen sind Stoffe, die ihnen passen.

Eine Mittelgattung zwischen dem Genre und der Landschaftsmalerei bilden
Kollers aus Zürich „Bettelkind" und Eberliö in München „Schafe, von einem
Geier verfolgt". Kollers knurrige Hunde, die den Zugang zu der Hausglocke
verlegen, sind eines der besten Bilder der Ausstellung, und ein socialistischer
Nachläufer von18i8 könnte sich vor denselben zu allerlei menschenfreundlichen
Betrachtungen veranlaßt fühlen, so gutgenährt, brummig und hochmüthig auf
ihre Anstellung als Lakaien weisen sie mit ihren Zähnen das vor Hunger und
Kälte zitternde Menschenkind von der Hausthüre zurück. Ebcrlis verfolgte
Schafe sind ein echtes „Thierleben aus'der Alpenwelt", ein Genrebild aus
dem Thierleben voll Charakter und mit einer großartigen Naturauffassung.
Hier ist eine Seite der Natur aufgefaßt, welche die schweizerischen Künstler bis
jetzt viel zu wenig geachtet hatten, und wo die schweizerische so. vielgestal¬
tige Gebirgswelt eine Fülle neuer Motive bittet.

Wol zwei Drittheile der ausgestellten Gemälde gehören der Landschafts-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_281149/92>, abgerufen am 01.09.2024.