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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band.

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getrieben, die Bauern sind städtisch, die Kleinstädter bäuerisch, bei Hunderten
von kleinen Städten und großen Dörfern läßt es sich gar nicht genau be¬
stimmen, ob sie mehr das eine oder das andere sind. Nein bäuerliche Bezirke
sind da nur noch als Enclaven eingestreut. Reine Großstädte, wie etwa
Hamburg, Berlin, Wien, hat Mitteldeutschland nicht aufzuweisen, ebensowenig
wie reine Bauerndörfer, wie die am Fuße der Alpen und an der Meeresküste
gelegenen. Im Norden und Süden weiß man noch ungefähr, was Stände
sind, in der Mitte ist das Verständniß für die organische Gliederung der Ge¬
sellschaft fast ganz erloschen. Die letzten bedeutsamen Neste des alten Innungs-
wesens muß man an der Nord- und Ostsee oder in den Vorländern der Alpen
suchen. In Ober- und Niederdeutschland herrschen noch reine Volksdialekte
vor; die Auflösung und Verwitterung des Volksdialekts charaktcristrt Mittel¬
deutschland. Im Süden und Norden wurzelt vorzugsweise noch ein strenges
Kirchenthum im Volk, und der Pommer sieht noch ebensogut im Papste den
wirklichen Antichrist, wie ihn der Tiroler im Doctor Luther sieht. Im Binnen¬
land mischen sich die Confessionen, und Toleranz und Jndifferentismus hat
selbst im Volksthum fast nur noch gebrochene und gedämpfte Tinten des kirch¬
lichen Lebens übriggelassen. Im Norden und Süden wohnen noch einsame
Menschen, der Cultur entrückte Volksgruppen, in der Mitte sind alle Pfade
aufgeschlossen und jedes einzelnen Haus steht an der großen Heerstraße. Dort
kann man noch Entdeckungsreisen machen, hier stolpert je alle zehn Schritte ein
Tourist über den andern. Wie die Bewohner des einsamen Oberlechthales
und vieler andern Alpenthäler in jungen Jahren in die weite Welt ziehen,
um draußen ihr Brot zu suchen und erst am späten Lebensabend als gemachte
Männer in die stille Heimat zurückzukehren, so ziehen tausende von Küsten¬
bewohnern in gleicher Absicht nach allen Meeren. norddeutsches und süd¬
deutsches Volksthum unterscheidet sich in vielen Aeußerlichkeiten; im Kern und
Wesen steht sich beides erstaunlich nahe. Schon in der landschaftlichen Natur
ist diese Verwandtschaft im Gegensatze zu Mitteldeutschland aufs schärfste
herausgekehrt. Im Norden und Süden herrschen die massenhaften geographi¬
schen Gebilde vor, große Ebenen, das Meer, große Ströme, große Gebirge;
in Mitteldeutschland der bunteste Wechsel kleiner Hügel- und Flachlandpartien,
im Mittelgebirge der mannigfaltigsten geognostischen Zusammensetzung einer
Ueberfülle kleiner Gewässer. Dem entspricht massenhaft centralisirtes Volksthum
auf der einen Seite, zersplittertes auf der andern. . Wenn Prof. Berus. Cotta
auf den frappanten Zusammenhang zwischen revolutionären Volksstimmungen
und örtlichen geologischen Bildungen in Deutschland hingewiesen hat, so liegt
in solcher Vergleichung mehr als ein bloßes metaphorisches Wortspiel. Wo
die urweltlichen Revolutionen am tollsten gewirthschaftet und die mannigfaltigsten
Gesteinsschichten neben- und untereinandergeworfen haben, da konnte natur-


getrieben, die Bauern sind städtisch, die Kleinstädter bäuerisch, bei Hunderten
von kleinen Städten und großen Dörfern läßt es sich gar nicht genau be¬
stimmen, ob sie mehr das eine oder das andere sind. Nein bäuerliche Bezirke
sind da nur noch als Enclaven eingestreut. Reine Großstädte, wie etwa
Hamburg, Berlin, Wien, hat Mitteldeutschland nicht aufzuweisen, ebensowenig
wie reine Bauerndörfer, wie die am Fuße der Alpen und an der Meeresküste
gelegenen. Im Norden und Süden weiß man noch ungefähr, was Stände
sind, in der Mitte ist das Verständniß für die organische Gliederung der Ge¬
sellschaft fast ganz erloschen. Die letzten bedeutsamen Neste des alten Innungs-
wesens muß man an der Nord- und Ostsee oder in den Vorländern der Alpen
suchen. In Ober- und Niederdeutschland herrschen noch reine Volksdialekte
vor; die Auflösung und Verwitterung des Volksdialekts charaktcristrt Mittel¬
deutschland. Im Süden und Norden wurzelt vorzugsweise noch ein strenges
Kirchenthum im Volk, und der Pommer sieht noch ebensogut im Papste den
wirklichen Antichrist, wie ihn der Tiroler im Doctor Luther sieht. Im Binnen¬
land mischen sich die Confessionen, und Toleranz und Jndifferentismus hat
selbst im Volksthum fast nur noch gebrochene und gedämpfte Tinten des kirch¬
lichen Lebens übriggelassen. Im Norden und Süden wohnen noch einsame
Menschen, der Cultur entrückte Volksgruppen, in der Mitte sind alle Pfade
aufgeschlossen und jedes einzelnen Haus steht an der großen Heerstraße. Dort
kann man noch Entdeckungsreisen machen, hier stolpert je alle zehn Schritte ein
Tourist über den andern. Wie die Bewohner des einsamen Oberlechthales
und vieler andern Alpenthäler in jungen Jahren in die weite Welt ziehen,
um draußen ihr Brot zu suchen und erst am späten Lebensabend als gemachte
Männer in die stille Heimat zurückzukehren, so ziehen tausende von Küsten¬
bewohnern in gleicher Absicht nach allen Meeren. norddeutsches und süd¬
deutsches Volksthum unterscheidet sich in vielen Aeußerlichkeiten; im Kern und
Wesen steht sich beides erstaunlich nahe. Schon in der landschaftlichen Natur
ist diese Verwandtschaft im Gegensatze zu Mitteldeutschland aufs schärfste
herausgekehrt. Im Norden und Süden herrschen die massenhaften geographi¬
schen Gebilde vor, große Ebenen, das Meer, große Ströme, große Gebirge;
in Mitteldeutschland der bunteste Wechsel kleiner Hügel- und Flachlandpartien,
im Mittelgebirge der mannigfaltigsten geognostischen Zusammensetzung einer
Ueberfülle kleiner Gewässer. Dem entspricht massenhaft centralisirtes Volksthum
auf der einen Seite, zersplittertes auf der andern. . Wenn Prof. Berus. Cotta
auf den frappanten Zusammenhang zwischen revolutionären Volksstimmungen
und örtlichen geologischen Bildungen in Deutschland hingewiesen hat, so liegt
in solcher Vergleichung mehr als ein bloßes metaphorisches Wortspiel. Wo
die urweltlichen Revolutionen am tollsten gewirthschaftet und die mannigfaltigsten
Gesteinsschichten neben- und untereinandergeworfen haben, da konnte natur-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_281149/518>, abgerufen am 01.09.2024.