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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band.

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nicht befriedigen kann. Wenn man einen Gegenstand historisch behandeln
will, so muß man ihn concret auffassen, man muß die verschiedenen Gesichts¬
punkte, die zur Vollständigkeit seiner Erscheinung gehören, sämmtlich in Be¬
tracht ziehen; denn sonst geht kein wirkliches Bild des Gegenstandes daraus
hervor, sondern ein verzerrtes. Man kann eine Geschichte der deutschen Poesie
nicht von einem einzelnen abstracten Gesichtspunkt aus schreiben. Wollte aber
der Verfasser nichts Anderes damit sagen, als eine Geschichte des Einflusses
der Alterthumsstudien auf die deutsche Poesie, so ist dagegen einzuwenden,
daß dieses kein concreter Gegenstand ist, der sich historisch behandeln ließe,
denn der Einfluß deö Alterthums ist sporadisch eingetreten. Man kann sich
seine Art und Weise nur dann vorstellen, wenn man die andern Motive der
Literaturentwicklung, die ihn ergänzt haben, gleichfalls in Betracht zieht,
wenn man eine Geschichte der deutschen Poesie überhaupt schreibt.

Dieses Mißverständniß bezieht sich nicht blos auf den Titel, es macht
sich auch in dem Organismus des Ganzen geltend. Der Gegenstand ließe
sich auf zwei Arten behandeln; entweder in einer allgemeinen Skizze, in einer
Abhandlung, die den Geschichtschreiber oder das Publicum auf diese specielle
Seite des Gegenstandes aufmerksam machte, wie es z. B. Herbst in dem klei¬
nen, auch vom Verfasser citirten Buche gethan; ober in einer Reihe von Mo¬
nographien, in denen bei Gelegenheit der einzelnen Gedichte nachgewiesen
würde, welches Vorbild aus dem Alterthum sie vor Augen gehabt, wieweit
sie dasselbe benutzt haben u. s. w. Herr Chvlevius hat beides gleichzeitig aus¬
führen wollen, und er hat in dem richtigen Gefühl, daß daraus immer noch kein
faßbares Ganze hervorgehen würde, auch noch ein drittes hinzugefügt: er hat
nämlich auch diejenigen Erscheinungen der Literatur, die nicht mit dem Alter¬
thum zusammenhängen, wenigstens theilweise besprochen. Um dies mit dein
Titel einigermaßen in Uebereinstimmung zu bringen , wendet er häuftsi
ein wunderliches Mittel an- Er schildert nämlich zuerst bei dem Dicht"',
den er grade behandelt, wie die Griechen und Römer aus ihn gewirkt und fügt
dann hinzu: "um nun aber zu zeigen, daß "r nicht ganz von antiken Ein-
flüssen abhängig war, wollen wir auch auf die Art und Weise eingehen, wie er
romantische oder moderne Stosse behandelt hat u. f. w." --, was dann auch
geschieht. Dies Mittel dürfte wol kaum hinreichend sein, um das PublicuM
darüber zu täuschen, daß es hier nicht mit einem wirklichen Geschichtswerk?
sondern nur mit einer Reihe von Monographien zu thun hat, die sich freilich
auf den nämlichen Gegenstand beziehen.

Um aber gegen das Buch gerecht zu sein, muß man in Anschlag bringen,
daß bei der Entstehung einos Werks, auch eines wissenschaftlichen, nicht blos
die bestimmte Absicht, sondern auch ,ein gewisser Naturproceß sich geltend macht'
Der Versasser, der dem großen Nationalwerk von Gervinus gerechte Anerken-


nicht befriedigen kann. Wenn man einen Gegenstand historisch behandeln
will, so muß man ihn concret auffassen, man muß die verschiedenen Gesichts¬
punkte, die zur Vollständigkeit seiner Erscheinung gehören, sämmtlich in Be¬
tracht ziehen; denn sonst geht kein wirkliches Bild des Gegenstandes daraus
hervor, sondern ein verzerrtes. Man kann eine Geschichte der deutschen Poesie
nicht von einem einzelnen abstracten Gesichtspunkt aus schreiben. Wollte aber
der Verfasser nichts Anderes damit sagen, als eine Geschichte des Einflusses
der Alterthumsstudien auf die deutsche Poesie, so ist dagegen einzuwenden,
daß dieses kein concreter Gegenstand ist, der sich historisch behandeln ließe,
denn der Einfluß deö Alterthums ist sporadisch eingetreten. Man kann sich
seine Art und Weise nur dann vorstellen, wenn man die andern Motive der
Literaturentwicklung, die ihn ergänzt haben, gleichfalls in Betracht zieht,
wenn man eine Geschichte der deutschen Poesie überhaupt schreibt.

Dieses Mißverständniß bezieht sich nicht blos auf den Titel, es macht
sich auch in dem Organismus des Ganzen geltend. Der Gegenstand ließe
sich auf zwei Arten behandeln; entweder in einer allgemeinen Skizze, in einer
Abhandlung, die den Geschichtschreiber oder das Publicum auf diese specielle
Seite des Gegenstandes aufmerksam machte, wie es z. B. Herbst in dem klei¬
nen, auch vom Verfasser citirten Buche gethan; ober in einer Reihe von Mo¬
nographien, in denen bei Gelegenheit der einzelnen Gedichte nachgewiesen
würde, welches Vorbild aus dem Alterthum sie vor Augen gehabt, wieweit
sie dasselbe benutzt haben u. s. w. Herr Chvlevius hat beides gleichzeitig aus¬
führen wollen, und er hat in dem richtigen Gefühl, daß daraus immer noch kein
faßbares Ganze hervorgehen würde, auch noch ein drittes hinzugefügt: er hat
nämlich auch diejenigen Erscheinungen der Literatur, die nicht mit dem Alter¬
thum zusammenhängen, wenigstens theilweise besprochen. Um dies mit dein
Titel einigermaßen in Uebereinstimmung zu bringen , wendet er häuftsi
ein wunderliches Mittel an- Er schildert nämlich zuerst bei dem Dicht"',
den er grade behandelt, wie die Griechen und Römer aus ihn gewirkt und fügt
dann hinzu: „um nun aber zu zeigen, daß «r nicht ganz von antiken Ein-
flüssen abhängig war, wollen wir auch auf die Art und Weise eingehen, wie er
romantische oder moderne Stosse behandelt hat u. f. w." —, was dann auch
geschieht. Dies Mittel dürfte wol kaum hinreichend sein, um das PublicuM
darüber zu täuschen, daß es hier nicht mit einem wirklichen Geschichtswerk?
sondern nur mit einer Reihe von Monographien zu thun hat, die sich freilich
auf den nämlichen Gegenstand beziehen.

Um aber gegen das Buch gerecht zu sein, muß man in Anschlag bringen,
daß bei der Entstehung einos Werks, auch eines wissenschaftlichen, nicht blos
die bestimmte Absicht, sondern auch ,ein gewisser Naturproceß sich geltend macht'
Der Versasser, der dem großen Nationalwerk von Gervinus gerechte Anerken-


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[0504] nicht befriedigen kann. Wenn man einen Gegenstand historisch behandeln will, so muß man ihn concret auffassen, man muß die verschiedenen Gesichts¬ punkte, die zur Vollständigkeit seiner Erscheinung gehören, sämmtlich in Be¬ tracht ziehen; denn sonst geht kein wirkliches Bild des Gegenstandes daraus hervor, sondern ein verzerrtes. Man kann eine Geschichte der deutschen Poesie nicht von einem einzelnen abstracten Gesichtspunkt aus schreiben. Wollte aber der Verfasser nichts Anderes damit sagen, als eine Geschichte des Einflusses der Alterthumsstudien auf die deutsche Poesie, so ist dagegen einzuwenden, daß dieses kein concreter Gegenstand ist, der sich historisch behandeln ließe, denn der Einfluß deö Alterthums ist sporadisch eingetreten. Man kann sich seine Art und Weise nur dann vorstellen, wenn man die andern Motive der Literaturentwicklung, die ihn ergänzt haben, gleichfalls in Betracht zieht, wenn man eine Geschichte der deutschen Poesie überhaupt schreibt. Dieses Mißverständniß bezieht sich nicht blos auf den Titel, es macht sich auch in dem Organismus des Ganzen geltend. Der Gegenstand ließe sich auf zwei Arten behandeln; entweder in einer allgemeinen Skizze, in einer Abhandlung, die den Geschichtschreiber oder das Publicum auf diese specielle Seite des Gegenstandes aufmerksam machte, wie es z. B. Herbst in dem klei¬ nen, auch vom Verfasser citirten Buche gethan; ober in einer Reihe von Mo¬ nographien, in denen bei Gelegenheit der einzelnen Gedichte nachgewiesen würde, welches Vorbild aus dem Alterthum sie vor Augen gehabt, wieweit sie dasselbe benutzt haben u. s. w. Herr Chvlevius hat beides gleichzeitig aus¬ führen wollen, und er hat in dem richtigen Gefühl, daß daraus immer noch kein faßbares Ganze hervorgehen würde, auch noch ein drittes hinzugefügt: er hat nämlich auch diejenigen Erscheinungen der Literatur, die nicht mit dem Alter¬ thum zusammenhängen, wenigstens theilweise besprochen. Um dies mit dein Titel einigermaßen in Uebereinstimmung zu bringen , wendet er häuftsi ein wunderliches Mittel an- Er schildert nämlich zuerst bei dem Dicht"', den er grade behandelt, wie die Griechen und Römer aus ihn gewirkt und fügt dann hinzu: „um nun aber zu zeigen, daß «r nicht ganz von antiken Ein- flüssen abhängig war, wollen wir auch auf die Art und Weise eingehen, wie er romantische oder moderne Stosse behandelt hat u. f. w." —, was dann auch geschieht. Dies Mittel dürfte wol kaum hinreichend sein, um das PublicuM darüber zu täuschen, daß es hier nicht mit einem wirklichen Geschichtswerk? sondern nur mit einer Reihe von Monographien zu thun hat, die sich freilich auf den nämlichen Gegenstand beziehen. Um aber gegen das Buch gerecht zu sein, muß man in Anschlag bringen, daß bei der Entstehung einos Werks, auch eines wissenschaftlichen, nicht blos die bestimmte Absicht, sondern auch ,ein gewisser Naturproceß sich geltend macht' Der Versasser, der dem großen Nationalwerk von Gervinus gerechte Anerken-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_281149/504>, abgerufen am 01.09.2024.