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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band.

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eigen Umstände mit in den Kauf. Wir sind so lebhaft als möglich von der
Ueberzeugung durchdrungen, daß an eine freie Entwicklung Deutschlands nicht
eher zu denken ist, als bis die drohende russische Uebermacht, die einer solchen
Befreiung widerstrebt, gebrochen sein wird. Aber wir halten eS ebenso für
unzweckmäßig, einen Nationalhaß gegen das russische Volk zu predigen, das
uns niemals etwas zu Leide gethan hat, als wir es unstatthaft finden, den
Franzosen mit blindem Vertrauen entgegenzukommen. Wenn Herr Taillandier
aufrichtig für die Einigung der beiden Völker arbeiten will, so muß er sich
zunächst an seine eignen Landsleute wenden und sie auffordern, uns noch in
andern Dingen zu respectiren, als in unsrer Dichtung und Gelehrsamkeit.
Es ist ganz gut, wenn französische Kritiker unsren literarischen Bestrebungen
ihre Theilnahme zuwenden, allein wir können diesen Beifall entbehren, denn
wir stehen in dieser Beziehung jetzt so ziemlich auf eignen Füßen. Ungleich
wichtiger ist es aber, daß unsre politischen Ideen anerkannt werden. Der
Gedanke der nationalen Einigung ist unser einziger Lebenskeim. Sollte dieser
wirklich versiegen, so würden wir mit der Zeit aus der Reihe der Culturvölker
heraustreten. Nun gibt es aber keinen Franzosen, der aufrichtig auf diese
Idee einginge. Solange unsre Einigungsgedanken keine Aussicht haben, sich
ZU realistren, verspotten sie dieselben als leere Träumereien, wenn aber ein¬
mal eine günstige Konstellation eintritt und die Möglichkeit eines politischen
Fortschritts wenigstens in nicht zu weiter Ferne steht, so tritt die nationale
Antipathie augenblicklich auf das lebhafteste hervor und sie wenden alle ihre
Graste an, um unsre Entwicklung zu paralvsiren. Darin ist Herr Taillan¬
dier um nichts besser, als seine Landsleure. In Rußland ist es nur die Ne¬
uerung, die uns schadet, in Frankreich dagegen die ganze Nation, und so-
!c>nge in dieser Beziehung nicht eine bessere Gesinnung eintritt, wird von einer
aufrichtigen Einigung der Völker nicht die Rede sein können.

Noch in einer andern Beziehung versehen es die französischen und engli¬
schen Schriftsteller bei der gegenwärtigen Krisis. Wenn wir unsre Regierungen
!° bringend als es uns möglich ist auffordern, sich an dem Kampfe gegen
Rußland zu betheiligen, so geschieht das im deutschen Interesse; eine Ver¬
richtung gegen die Westmächte, wie sie von jener Seile so häufig hervor¬
gehoben wirb, erkennen wir nicht an. Zwar ist jetzt die orientalische Ange¬
legenheit in ein Stadium getreten, wo man in dem dichten Nebel nicht mehr
Hand vor Augen sieht. Phänomene, wie der Einmarsch der Oestreicher
die Donaufürstenthümer infolge eines Vertrags mit den Türken, aber be¬
reitet mit der Erklärung, daß man gegen Rußland keinen Krieg wolle, ent¬
gehen sich alU>r Analogie und aller Berechnung. Aber soviel ist doch auch
em blödesten Auge erkennbar, daß die Westmachte den Krieg nicht auf eine
" führen, der die deutschen Staaten zu einem Bündniß ermuthigen kann.


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eigen Umstände mit in den Kauf. Wir sind so lebhaft als möglich von der
Ueberzeugung durchdrungen, daß an eine freie Entwicklung Deutschlands nicht
eher zu denken ist, als bis die drohende russische Uebermacht, die einer solchen
Befreiung widerstrebt, gebrochen sein wird. Aber wir halten eS ebenso für
unzweckmäßig, einen Nationalhaß gegen das russische Volk zu predigen, das
uns niemals etwas zu Leide gethan hat, als wir es unstatthaft finden, den
Franzosen mit blindem Vertrauen entgegenzukommen. Wenn Herr Taillandier
aufrichtig für die Einigung der beiden Völker arbeiten will, so muß er sich
zunächst an seine eignen Landsleute wenden und sie auffordern, uns noch in
andern Dingen zu respectiren, als in unsrer Dichtung und Gelehrsamkeit.
Es ist ganz gut, wenn französische Kritiker unsren literarischen Bestrebungen
ihre Theilnahme zuwenden, allein wir können diesen Beifall entbehren, denn
wir stehen in dieser Beziehung jetzt so ziemlich auf eignen Füßen. Ungleich
wichtiger ist es aber, daß unsre politischen Ideen anerkannt werden. Der
Gedanke der nationalen Einigung ist unser einziger Lebenskeim. Sollte dieser
wirklich versiegen, so würden wir mit der Zeit aus der Reihe der Culturvölker
heraustreten. Nun gibt es aber keinen Franzosen, der aufrichtig auf diese
Idee einginge. Solange unsre Einigungsgedanken keine Aussicht haben, sich
ZU realistren, verspotten sie dieselben als leere Träumereien, wenn aber ein¬
mal eine günstige Konstellation eintritt und die Möglichkeit eines politischen
Fortschritts wenigstens in nicht zu weiter Ferne steht, so tritt die nationale
Antipathie augenblicklich auf das lebhafteste hervor und sie wenden alle ihre
Graste an, um unsre Entwicklung zu paralvsiren. Darin ist Herr Taillan¬
dier um nichts besser, als seine Landsleure. In Rußland ist es nur die Ne¬
uerung, die uns schadet, in Frankreich dagegen die ganze Nation, und so-
!c>nge in dieser Beziehung nicht eine bessere Gesinnung eintritt, wird von einer
aufrichtigen Einigung der Völker nicht die Rede sein können.

Noch in einer andern Beziehung versehen es die französischen und engli¬
schen Schriftsteller bei der gegenwärtigen Krisis. Wenn wir unsre Regierungen
!° bringend als es uns möglich ist auffordern, sich an dem Kampfe gegen
Rußland zu betheiligen, so geschieht das im deutschen Interesse; eine Ver¬
richtung gegen die Westmächte, wie sie von jener Seile so häufig hervor¬
gehoben wirb, erkennen wir nicht an. Zwar ist jetzt die orientalische Ange¬
legenheit in ein Stadium getreten, wo man in dem dichten Nebel nicht mehr
Hand vor Augen sieht. Phänomene, wie der Einmarsch der Oestreicher
die Donaufürstenthümer infolge eines Vertrags mit den Türken, aber be¬
reitet mit der Erklärung, daß man gegen Rußland keinen Krieg wolle, ent¬
gehen sich alU>r Analogie und aller Berechnung. Aber soviel ist doch auch
em blödesten Auge erkennbar, daß die Westmachte den Krieg nicht auf eine
" führen, der die deutschen Staaten zu einem Bündniß ermuthigen kann.


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[0467] eigen Umstände mit in den Kauf. Wir sind so lebhaft als möglich von der Ueberzeugung durchdrungen, daß an eine freie Entwicklung Deutschlands nicht eher zu denken ist, als bis die drohende russische Uebermacht, die einer solchen Befreiung widerstrebt, gebrochen sein wird. Aber wir halten eS ebenso für unzweckmäßig, einen Nationalhaß gegen das russische Volk zu predigen, das uns niemals etwas zu Leide gethan hat, als wir es unstatthaft finden, den Franzosen mit blindem Vertrauen entgegenzukommen. Wenn Herr Taillandier aufrichtig für die Einigung der beiden Völker arbeiten will, so muß er sich zunächst an seine eignen Landsleute wenden und sie auffordern, uns noch in andern Dingen zu respectiren, als in unsrer Dichtung und Gelehrsamkeit. Es ist ganz gut, wenn französische Kritiker unsren literarischen Bestrebungen ihre Theilnahme zuwenden, allein wir können diesen Beifall entbehren, denn wir stehen in dieser Beziehung jetzt so ziemlich auf eignen Füßen. Ungleich wichtiger ist es aber, daß unsre politischen Ideen anerkannt werden. Der Gedanke der nationalen Einigung ist unser einziger Lebenskeim. Sollte dieser wirklich versiegen, so würden wir mit der Zeit aus der Reihe der Culturvölker heraustreten. Nun gibt es aber keinen Franzosen, der aufrichtig auf diese Idee einginge. Solange unsre Einigungsgedanken keine Aussicht haben, sich ZU realistren, verspotten sie dieselben als leere Träumereien, wenn aber ein¬ mal eine günstige Konstellation eintritt und die Möglichkeit eines politischen Fortschritts wenigstens in nicht zu weiter Ferne steht, so tritt die nationale Antipathie augenblicklich auf das lebhafteste hervor und sie wenden alle ihre Graste an, um unsre Entwicklung zu paralvsiren. Darin ist Herr Taillan¬ dier um nichts besser, als seine Landsleure. In Rußland ist es nur die Ne¬ uerung, die uns schadet, in Frankreich dagegen die ganze Nation, und so- !c>nge in dieser Beziehung nicht eine bessere Gesinnung eintritt, wird von einer aufrichtigen Einigung der Völker nicht die Rede sein können. Noch in einer andern Beziehung versehen es die französischen und engli¬ schen Schriftsteller bei der gegenwärtigen Krisis. Wenn wir unsre Regierungen !° bringend als es uns möglich ist auffordern, sich an dem Kampfe gegen Rußland zu betheiligen, so geschieht das im deutschen Interesse; eine Ver¬ richtung gegen die Westmächte, wie sie von jener Seile so häufig hervor¬ gehoben wirb, erkennen wir nicht an. Zwar ist jetzt die orientalische Ange¬ legenheit in ein Stadium getreten, wo man in dem dichten Nebel nicht mehr Hand vor Augen sieht. Phänomene, wie der Einmarsch der Oestreicher die Donaufürstenthümer infolge eines Vertrags mit den Türken, aber be¬ reitet mit der Erklärung, daß man gegen Rußland keinen Krieg wolle, ent¬ gehen sich alU>r Analogie und aller Berechnung. Aber soviel ist doch auch em blödesten Auge erkennbar, daß die Westmachte den Krieg nicht auf eine " führen, der die deutschen Staaten zu einem Bündniß ermuthigen kann. 38'

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_281149/467>, abgerufen am 01.09.2024.