Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

vielmehr grade auf die Arglosigkeit des redlichsten Fürsten speculirte. Und das
geschah in der kanonischen Zeit der russischen Waffenbrüderschaft, deren Erin¬
nerung hinreichen soll, alles in Vergessenheit zu begraben, was Preußen zu
andern Zeiten von Rußland erlitten hat!

Redactionsbemerkungen zum vorstehenden Aussatz.

Wir theilen die Ansicht des Verfassers im vorstehenden Aufsatz, daß eS
sehr zweckmäßig ist, fortwährend auf die zweideutige Stellung hinzuweisen, die
Rußland selbst in den Zeiten scheinbarer Allianz gegen Preußen angenommen
hat. Doch wollten wir diese Gelegenheit nicht vorüberlassen, ohne vor dem
entgegengesetzten Irrthum zu warnen, der schon einmal in den Jahren nach
der Zulircvolution für unsre politische Entwicklung verhängnißvoll war. Damals
empfand man nämlich im Gegensatz zu dem erfrischenden Hauch der Freiheit, der
aus Frankreich herüberzuwehen schien, die schwüle Atmosphäre der heiligen
Allianz auf eine so drückende Weise, daß man nicht abgeneigt war, sich der
früheren Erhebung Deutschlands gewissermaßen zu schumen, weil sie mit russi¬
scher Hilfe geschehen war und weil sie zu einem System politischer Reaction
geführt hatte. Es entstand dadurch in den Reihen des Liberalismus ein
Zwiespalt, dessen Folgen man im Jahre 18i8 sehr bitter empfunden hat.
So wetteifern auch gegenwartig namentlich die französischen Schriftsteller
untereinander, uns die Erinnerung an die Freiheitskriege zu verleiden und
das Bündniß mit. Rußland gegen Napoleon als einen politischen Irrthum
darzustellen. Am ausdauerndsten in diesen Bemühungen ist Herr Taillan-
dier, der Kritiker der Revue des deur mondes. Das letzte Heft dieses Jour¬
nals bringt wieder einen Artikel, in welchem die neuen politischen Broschüren
über Nußland besprochen werden und in welchem die Thätigkeit des Freiherrn
von Stein für die antifranzösische Koalition für einen fast ebenso schweren
Mißgriff ausgegeben wird, als die Hegelsche Philosophie, in welcher Herr
Taillantier noch immer den Grund der deutschen Zerrüttung sucht. Je leb¬
hafter wir Herrn Taillandier dafür danken müssen, daß er seine Landsleute
mit der deutschen Literatur bekannt zu machen sucht, und je aufrichtiger wir
mit seinem Streben, zwei der wichtigsten Culturvölker miteinander in eine
nähere Verbindung zu dringen, übereinstimmen, desto ernster müssen wir gege"
einen Irrthum protestiren, der auf das Verhältniß der beiden Völker ein g"NS
falsches Licht wirft. Die Erhebung deö deutschen Volkes gegen Napoleon war
die sittlichste, edelste und nothwendigste, die überhaupt in der deutschen Ge¬
schichte vorkommt. Zwar hatten wir gewünscht, daß sie sich blos auf die
eignen Kräfte gestützt und daß sie zu einer freien und nationalen Politik
fuhrt hätte; allein da uns das Schicksal diese reine und schöne Form ver¬
sagte, so nehmen wir um der Sache willen auch die begleitenden widerwär-


vielmehr grade auf die Arglosigkeit des redlichsten Fürsten speculirte. Und das
geschah in der kanonischen Zeit der russischen Waffenbrüderschaft, deren Erin¬
nerung hinreichen soll, alles in Vergessenheit zu begraben, was Preußen zu
andern Zeiten von Rußland erlitten hat!

Redactionsbemerkungen zum vorstehenden Aussatz.

Wir theilen die Ansicht des Verfassers im vorstehenden Aufsatz, daß eS
sehr zweckmäßig ist, fortwährend auf die zweideutige Stellung hinzuweisen, die
Rußland selbst in den Zeiten scheinbarer Allianz gegen Preußen angenommen
hat. Doch wollten wir diese Gelegenheit nicht vorüberlassen, ohne vor dem
entgegengesetzten Irrthum zu warnen, der schon einmal in den Jahren nach
der Zulircvolution für unsre politische Entwicklung verhängnißvoll war. Damals
empfand man nämlich im Gegensatz zu dem erfrischenden Hauch der Freiheit, der
aus Frankreich herüberzuwehen schien, die schwüle Atmosphäre der heiligen
Allianz auf eine so drückende Weise, daß man nicht abgeneigt war, sich der
früheren Erhebung Deutschlands gewissermaßen zu schumen, weil sie mit russi¬
scher Hilfe geschehen war und weil sie zu einem System politischer Reaction
geführt hatte. Es entstand dadurch in den Reihen des Liberalismus ein
Zwiespalt, dessen Folgen man im Jahre 18i8 sehr bitter empfunden hat.
So wetteifern auch gegenwartig namentlich die französischen Schriftsteller
untereinander, uns die Erinnerung an die Freiheitskriege zu verleiden und
das Bündniß mit. Rußland gegen Napoleon als einen politischen Irrthum
darzustellen. Am ausdauerndsten in diesen Bemühungen ist Herr Taillan-
dier, der Kritiker der Revue des deur mondes. Das letzte Heft dieses Jour¬
nals bringt wieder einen Artikel, in welchem die neuen politischen Broschüren
über Nußland besprochen werden und in welchem die Thätigkeit des Freiherrn
von Stein für die antifranzösische Koalition für einen fast ebenso schweren
Mißgriff ausgegeben wird, als die Hegelsche Philosophie, in welcher Herr
Taillantier noch immer den Grund der deutschen Zerrüttung sucht. Je leb¬
hafter wir Herrn Taillandier dafür danken müssen, daß er seine Landsleute
mit der deutschen Literatur bekannt zu machen sucht, und je aufrichtiger wir
mit seinem Streben, zwei der wichtigsten Culturvölker miteinander in eine
nähere Verbindung zu dringen, übereinstimmen, desto ernster müssen wir gege"
einen Irrthum protestiren, der auf das Verhältniß der beiden Völker ein g"NS
falsches Licht wirft. Die Erhebung deö deutschen Volkes gegen Napoleon war
die sittlichste, edelste und nothwendigste, die überhaupt in der deutschen Ge¬
schichte vorkommt. Zwar hatten wir gewünscht, daß sie sich blos auf die
eignen Kräfte gestützt und daß sie zu einer freien und nationalen Politik
fuhrt hätte; allein da uns das Schicksal diese reine und schöne Form ver¬
sagte, so nehmen wir um der Sache willen auch die begleitenden widerwär-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0466" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/281617"/>
          <p xml:id="ID_1417" prev="#ID_1416"> vielmehr grade auf die Arglosigkeit des redlichsten Fürsten speculirte. Und das<lb/>
geschah in der kanonischen Zeit der russischen Waffenbrüderschaft, deren Erin¬<lb/>
nerung hinreichen soll, alles in Vergessenheit zu begraben, was Preußen zu<lb/>
andern Zeiten von Rußland erlitten hat!</p><lb/>
          <div n="2">
            <head> Redactionsbemerkungen zum vorstehenden Aussatz.</head><lb/>
            <p xml:id="ID_1418" next="#ID_1419"> Wir theilen die Ansicht des Verfassers im vorstehenden Aufsatz, daß eS<lb/>
sehr zweckmäßig ist, fortwährend auf die zweideutige Stellung hinzuweisen, die<lb/>
Rußland selbst in den Zeiten scheinbarer Allianz gegen Preußen angenommen<lb/>
hat. Doch wollten wir diese Gelegenheit nicht vorüberlassen, ohne vor dem<lb/>
entgegengesetzten Irrthum zu warnen, der schon einmal in den Jahren nach<lb/>
der Zulircvolution für unsre politische Entwicklung verhängnißvoll war. Damals<lb/>
empfand man nämlich im Gegensatz zu dem erfrischenden Hauch der Freiheit, der<lb/>
aus Frankreich herüberzuwehen schien, die schwüle Atmosphäre der heiligen<lb/>
Allianz auf eine so drückende Weise, daß man nicht abgeneigt war, sich der<lb/>
früheren Erhebung Deutschlands gewissermaßen zu schumen, weil sie mit russi¬<lb/>
scher Hilfe geschehen war und weil sie zu einem System politischer Reaction<lb/>
geführt hatte. Es entstand dadurch in den Reihen des Liberalismus ein<lb/>
Zwiespalt, dessen Folgen man im Jahre 18i8 sehr bitter empfunden hat.<lb/>
So wetteifern auch gegenwartig namentlich die französischen Schriftsteller<lb/>
untereinander, uns die Erinnerung an die Freiheitskriege zu verleiden und<lb/>
das Bündniß mit. Rußland gegen Napoleon als einen politischen Irrthum<lb/>
darzustellen. Am ausdauerndsten in diesen Bemühungen ist Herr Taillan-<lb/>
dier, der Kritiker der Revue des deur mondes. Das letzte Heft dieses Jour¬<lb/>
nals bringt wieder einen Artikel, in welchem die neuen politischen Broschüren<lb/>
über Nußland besprochen werden und in welchem die Thätigkeit des Freiherrn<lb/>
von Stein für die antifranzösische Koalition für einen fast ebenso schweren<lb/>
Mißgriff ausgegeben wird, als die Hegelsche Philosophie, in welcher Herr<lb/>
Taillantier noch immer den Grund der deutschen Zerrüttung sucht. Je leb¬<lb/>
hafter wir Herrn Taillandier dafür danken müssen, daß er seine Landsleute<lb/>
mit der deutschen Literatur bekannt zu machen sucht, und je aufrichtiger wir<lb/>
mit seinem Streben, zwei der wichtigsten Culturvölker miteinander in eine<lb/>
nähere Verbindung zu dringen, übereinstimmen, desto ernster müssen wir gege"<lb/>
einen Irrthum protestiren, der auf das Verhältniß der beiden Völker ein g"NS<lb/>
falsches Licht wirft. Die Erhebung deö deutschen Volkes gegen Napoleon war<lb/>
die sittlichste, edelste und nothwendigste, die überhaupt in der deutschen Ge¬<lb/>
schichte vorkommt. Zwar hatten wir gewünscht, daß sie sich blos auf die<lb/>
eignen Kräfte gestützt und daß sie zu einer freien und nationalen Politik<lb/>
fuhrt hätte; allein da uns das Schicksal diese reine und schöne Form ver¬<lb/>
sagte, so nehmen wir um der Sache willen auch die begleitenden widerwär-</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0466] vielmehr grade auf die Arglosigkeit des redlichsten Fürsten speculirte. Und das geschah in der kanonischen Zeit der russischen Waffenbrüderschaft, deren Erin¬ nerung hinreichen soll, alles in Vergessenheit zu begraben, was Preußen zu andern Zeiten von Rußland erlitten hat! Redactionsbemerkungen zum vorstehenden Aussatz. Wir theilen die Ansicht des Verfassers im vorstehenden Aufsatz, daß eS sehr zweckmäßig ist, fortwährend auf die zweideutige Stellung hinzuweisen, die Rußland selbst in den Zeiten scheinbarer Allianz gegen Preußen angenommen hat. Doch wollten wir diese Gelegenheit nicht vorüberlassen, ohne vor dem entgegengesetzten Irrthum zu warnen, der schon einmal in den Jahren nach der Zulircvolution für unsre politische Entwicklung verhängnißvoll war. Damals empfand man nämlich im Gegensatz zu dem erfrischenden Hauch der Freiheit, der aus Frankreich herüberzuwehen schien, die schwüle Atmosphäre der heiligen Allianz auf eine so drückende Weise, daß man nicht abgeneigt war, sich der früheren Erhebung Deutschlands gewissermaßen zu schumen, weil sie mit russi¬ scher Hilfe geschehen war und weil sie zu einem System politischer Reaction geführt hatte. Es entstand dadurch in den Reihen des Liberalismus ein Zwiespalt, dessen Folgen man im Jahre 18i8 sehr bitter empfunden hat. So wetteifern auch gegenwartig namentlich die französischen Schriftsteller untereinander, uns die Erinnerung an die Freiheitskriege zu verleiden und das Bündniß mit. Rußland gegen Napoleon als einen politischen Irrthum darzustellen. Am ausdauerndsten in diesen Bemühungen ist Herr Taillan- dier, der Kritiker der Revue des deur mondes. Das letzte Heft dieses Jour¬ nals bringt wieder einen Artikel, in welchem die neuen politischen Broschüren über Nußland besprochen werden und in welchem die Thätigkeit des Freiherrn von Stein für die antifranzösische Koalition für einen fast ebenso schweren Mißgriff ausgegeben wird, als die Hegelsche Philosophie, in welcher Herr Taillantier noch immer den Grund der deutschen Zerrüttung sucht. Je leb¬ hafter wir Herrn Taillandier dafür danken müssen, daß er seine Landsleute mit der deutschen Literatur bekannt zu machen sucht, und je aufrichtiger wir mit seinem Streben, zwei der wichtigsten Culturvölker miteinander in eine nähere Verbindung zu dringen, übereinstimmen, desto ernster müssen wir gege" einen Irrthum protestiren, der auf das Verhältniß der beiden Völker ein g"NS falsches Licht wirft. Die Erhebung deö deutschen Volkes gegen Napoleon war die sittlichste, edelste und nothwendigste, die überhaupt in der deutschen Ge¬ schichte vorkommt. Zwar hatten wir gewünscht, daß sie sich blos auf die eignen Kräfte gestützt und daß sie zu einer freien und nationalen Politik fuhrt hätte; allein da uns das Schicksal diese reine und schöne Form ver¬ sagte, so nehmen wir um der Sache willen auch die begleitenden widerwär-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_281149
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_281149/466
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_281149/466>, abgerufen am 27.07.2024.