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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band.

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sich überall bemühen, immer wieder auf die letzten Gründe zurückzugehen. Was
bei glücklicheren Nationen nur als der leichte Blütenstaub des wirklichen Lebens
erscheint, sah man in Deutschland als seinen innersten Kern an: das Privat--
gespräch und die Reflexion überhaupt. Darin suchten die besten Geister ihre
ganze Lebensthätigkeit, und zwar nicht in Betrachtungen des Nächsten, sondern
in dem .Aufspüren des Verborgenen. -- Aus diesem Zersetzungsproceß entspringt
jene sogenannte Objectivität, die- alles Urtheil aufhebt. Irgendwo mußte uns
doch der Dichter eine Spur seiner eignen sittlichen Weltanschauung zeigen;
aber in den Wahlverwandtschaften verlieren wir uns ganz in die Thatsachen.
Wie man das Leben zubringt, erscheint ziemlich gleichgiltig; in seiner Tiefe ist
nichts als Bitterkeit, der Schaum auf der Oberfläche spielt in ziemlich luftigen
Farben. Das Reich des Zufalls ist allwaltcnd; Andeutungen und Vorzeichen
umstricken das ganze Leben, aber man beachtet sie nicht, und wo man sie ein¬
mal festhält, erweisen sie sich als trügerisch. In diesem finstern Spiel des
Schicksals scheint sich als die leitende Lebensmarime der Ausruf Charlottes
festzustellen: "Es sind gewisse Dinge, die sich das Schicksal hartnäckig vornimmt.
Vergebens, daß Vernunft und Tugend, Pflicht und alles Heilige sich ihm in
den Weg stellen; es soll etwas geschehen, was ihm recht ist, was uns nicht
recht scheint, und so geht es zuletzt durch, wir mögen uns geberden, wie wir
wollen." -- Eine greisenhafte Lebensanschauung! am niederschlagvndsten für
junge, unverletzte Gemüther, die des Lebens noch froh und in den Zufällig¬
keiten und Gebrechen desselben noch nicht befangen sind. Die tiefere Begründung
dieses, unheimlichen Eindrucks wird uns klar werden, wenn wir die geistigen
Lebensmotive des Romans, seine Beziehungen zu der öffentlichen Sittlichkeit,
zu dem Glauben und den Leiden der Mitwelt ins Auge fassen. Gewiß wäre
es eine unbillige Zumuthung an den Dichter, er solle durch jedes seiner Werke,
das doch nur ein bestimmtes Gemälde beabsichtigen kann, die Gesammtbildung
des Zeitalters durchschimmern lassen. Allein wo sich des gesammten Volks el"
großes Leiden und damit eine große Idee bemächtigt, und wo es dem Dichter
sichtlich darum zu thun ist, die Lebensatmosphäre seiner Zeit anschaulich ZU
machen, wo er mit einer gewissen vornehmen Sicherheit nicht nur über den
einzelnen Fall, sondern über die demselben zu Grunde liegenden Lebensmarimen
reflectirt, da wird man von ihm verlangen dürfen, sein Bild solle nicht in dem
Aether der reinen Dichtung schweben, sondern auf dem festen Boden der Wirk¬
lichkeit aufgerichtet sein. In dieser Beziehung stehen die Wahlverwandtschaften
in einem sehr nachtheiligen Verhältniß zum Wilhelm Meister. Der letztere
Roman schildert, ohne es eigentlich zu wollen, die sittliche Atmosphäre Deutsch'
lands am Ende des vorigen Jah'rhuudertö auf das getreueste. Der deutsche
Geist hatte sich von den nationalen Ueberlieferungen losgerissen, die Religion
hatte aufgehört, der Kern eines wirklichen Organismus zu sein, der Staat und


sich überall bemühen, immer wieder auf die letzten Gründe zurückzugehen. Was
bei glücklicheren Nationen nur als der leichte Blütenstaub des wirklichen Lebens
erscheint, sah man in Deutschland als seinen innersten Kern an: das Privat--
gespräch und die Reflexion überhaupt. Darin suchten die besten Geister ihre
ganze Lebensthätigkeit, und zwar nicht in Betrachtungen des Nächsten, sondern
in dem .Aufspüren des Verborgenen. — Aus diesem Zersetzungsproceß entspringt
jene sogenannte Objectivität, die- alles Urtheil aufhebt. Irgendwo mußte uns
doch der Dichter eine Spur seiner eignen sittlichen Weltanschauung zeigen;
aber in den Wahlverwandtschaften verlieren wir uns ganz in die Thatsachen.
Wie man das Leben zubringt, erscheint ziemlich gleichgiltig; in seiner Tiefe ist
nichts als Bitterkeit, der Schaum auf der Oberfläche spielt in ziemlich luftigen
Farben. Das Reich des Zufalls ist allwaltcnd; Andeutungen und Vorzeichen
umstricken das ganze Leben, aber man beachtet sie nicht, und wo man sie ein¬
mal festhält, erweisen sie sich als trügerisch. In diesem finstern Spiel des
Schicksals scheint sich als die leitende Lebensmarime der Ausruf Charlottes
festzustellen: „Es sind gewisse Dinge, die sich das Schicksal hartnäckig vornimmt.
Vergebens, daß Vernunft und Tugend, Pflicht und alles Heilige sich ihm in
den Weg stellen; es soll etwas geschehen, was ihm recht ist, was uns nicht
recht scheint, und so geht es zuletzt durch, wir mögen uns geberden, wie wir
wollen." — Eine greisenhafte Lebensanschauung! am niederschlagvndsten für
junge, unverletzte Gemüther, die des Lebens noch froh und in den Zufällig¬
keiten und Gebrechen desselben noch nicht befangen sind. Die tiefere Begründung
dieses, unheimlichen Eindrucks wird uns klar werden, wenn wir die geistigen
Lebensmotive des Romans, seine Beziehungen zu der öffentlichen Sittlichkeit,
zu dem Glauben und den Leiden der Mitwelt ins Auge fassen. Gewiß wäre
es eine unbillige Zumuthung an den Dichter, er solle durch jedes seiner Werke,
das doch nur ein bestimmtes Gemälde beabsichtigen kann, die Gesammtbildung
des Zeitalters durchschimmern lassen. Allein wo sich des gesammten Volks el»
großes Leiden und damit eine große Idee bemächtigt, und wo es dem Dichter
sichtlich darum zu thun ist, die Lebensatmosphäre seiner Zeit anschaulich ZU
machen, wo er mit einer gewissen vornehmen Sicherheit nicht nur über den
einzelnen Fall, sondern über die demselben zu Grunde liegenden Lebensmarimen
reflectirt, da wird man von ihm verlangen dürfen, sein Bild solle nicht in dem
Aether der reinen Dichtung schweben, sondern auf dem festen Boden der Wirk¬
lichkeit aufgerichtet sein. In dieser Beziehung stehen die Wahlverwandtschaften
in einem sehr nachtheiligen Verhältniß zum Wilhelm Meister. Der letztere
Roman schildert, ohne es eigentlich zu wollen, die sittliche Atmosphäre Deutsch'
lands am Ende des vorigen Jah'rhuudertö auf das getreueste. Der deutsche
Geist hatte sich von den nationalen Ueberlieferungen losgerissen, die Religion
hatte aufgehört, der Kern eines wirklichen Organismus zu sein, der Staat und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_281149/344>, abgerufen am 01.09.2024.