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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band.

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in dem Verhältniß zu Eduard eine Schuld gegen Charlotte, ihre mütterliche
Freundin, begeht, so würden wir uns mit dieser Schuld leicht versöhnen, wenn
die Leidenschaft gewaltiger und ergreifender geschildert wäre. Aber nicht eine
Spur von jenem hinreißenden Zauber, den Goethe so wohl auszuüben verstand,
dem wir selbst in den kurzen Scenen der Leidenschaft bei Mignon begegnen,
treffen wir in diesem seltsam verschlossenen Wesen an. Die Leidenschaft erscheint
überhaupt in dem Buch nicht als der überwältigende Ausdruck der eigensten
Natur, sondern als etwas Fremdes, das von außen her über den Menschen
kommt, als der Einfluß physikalischer, namentlich chemischer Gesetze. Der selt¬
same Einfall, in den Nerven Ottiliens die Beziehung metallischer Kräfte wahr¬
zunehmen , zeigt einerseits die Abhängigkeit von den naturphilosophischen
Träumereien der Zeit, andrerseits das Bestreben, das Geistige in materielle
Beziehungen aufzulösen. Die Zustände Ottiliens sind. wo sie nicht blos zu
genrehaften Ausmalungen dienen, der Gegenstand eines physiologischen Stu¬
diums. Diese Mystik der Materie, der geheimen Naturmächte verdrängt in der
Romantik den Glauben an das Sittengesetz. Und so führt uns denn auch die
Katastrophe in ein neues Reich der Mystik, in dem unsre gewöhnlichen Em¬
pfindungen und Begriffe nicht mehr ausreichen. Die Zustände, in welche
Ottilie durch das Gefühl von der Unlösbarkeit des Conflicts versetzt wird, sind
so eigenthümlicher Natur und werden dabei so ausführlich geschildert, daß wir
in Verwirrung gerathen. Und doch gibt uns der Dichter ihren Charakter für
um Ideal aus und stellt an uns die Anforderung, wir sollen ihn als noth¬
wendig empfinden. Wir stehen rathlos vor einer Unauflöslichkeit, die uns
dadurch noch fremder erscheint, daß Ottilie durch ihre seltsame Buße wirklich
eine Heilige verwandelt wird, daß ihre Gebeine Wunder thun.

An diese Art von chemischer Nothwendigkeit knüpft sich dann der Zufall
als eine unergründliche Offenbarung von der geheimen durchgängigen Wechsel¬
wirkung der Dinge, als jenes "Dämonische", dem der Dichter in seinem spätern
Alter mehr als billig nachsann. Einzelne Seiten dieses Begriffs sind uns zwar
sehr verständlich z. B. die Uebergewalt der Natur über die Regel, ferner daS
Räthsel des Zufalls, in dem man ein Gesetz ahnt, obgleich sich der Verstand
gegen die Möglichkeit eines solchen Gesetzes sträubt u. s. w. Aber außer diesen
deutlichen Begriffsbestimmungen liegt noch etwas darin, was er sich selbst nicht
^ar gemacht zu haben scheint. Der sittliche Proceß verliert sich in das Spiel
einer Kraft, die mit dem sittlichen Princip nichts zu thun hat. Die Zeit hatte
überall die Neigung, auf die letzten Gründe der Erscheinung einzugehen, die
Thatsachen nur als Gegenstand der Analyse aufzufassen, und die Kunst ließ sich
dadurch verleiten nach Art deö Anatomen, nicht selten auf eine recht widerliche
W"se, die innern Organe der Seele bloszulegen. In dem praktischen Leben
war keine feste und bestimmte Gestalt der Ideen vorhanden, der Dichter mußte


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in dem Verhältniß zu Eduard eine Schuld gegen Charlotte, ihre mütterliche
Freundin, begeht, so würden wir uns mit dieser Schuld leicht versöhnen, wenn
die Leidenschaft gewaltiger und ergreifender geschildert wäre. Aber nicht eine
Spur von jenem hinreißenden Zauber, den Goethe so wohl auszuüben verstand,
dem wir selbst in den kurzen Scenen der Leidenschaft bei Mignon begegnen,
treffen wir in diesem seltsam verschlossenen Wesen an. Die Leidenschaft erscheint
überhaupt in dem Buch nicht als der überwältigende Ausdruck der eigensten
Natur, sondern als etwas Fremdes, das von außen her über den Menschen
kommt, als der Einfluß physikalischer, namentlich chemischer Gesetze. Der selt¬
same Einfall, in den Nerven Ottiliens die Beziehung metallischer Kräfte wahr¬
zunehmen , zeigt einerseits die Abhängigkeit von den naturphilosophischen
Träumereien der Zeit, andrerseits das Bestreben, das Geistige in materielle
Beziehungen aufzulösen. Die Zustände Ottiliens sind. wo sie nicht blos zu
genrehaften Ausmalungen dienen, der Gegenstand eines physiologischen Stu¬
diums. Diese Mystik der Materie, der geheimen Naturmächte verdrängt in der
Romantik den Glauben an das Sittengesetz. Und so führt uns denn auch die
Katastrophe in ein neues Reich der Mystik, in dem unsre gewöhnlichen Em¬
pfindungen und Begriffe nicht mehr ausreichen. Die Zustände, in welche
Ottilie durch das Gefühl von der Unlösbarkeit des Conflicts versetzt wird, sind
so eigenthümlicher Natur und werden dabei so ausführlich geschildert, daß wir
in Verwirrung gerathen. Und doch gibt uns der Dichter ihren Charakter für
um Ideal aus und stellt an uns die Anforderung, wir sollen ihn als noth¬
wendig empfinden. Wir stehen rathlos vor einer Unauflöslichkeit, die uns
dadurch noch fremder erscheint, daß Ottilie durch ihre seltsame Buße wirklich
eine Heilige verwandelt wird, daß ihre Gebeine Wunder thun.

An diese Art von chemischer Nothwendigkeit knüpft sich dann der Zufall
als eine unergründliche Offenbarung von der geheimen durchgängigen Wechsel¬
wirkung der Dinge, als jenes „Dämonische", dem der Dichter in seinem spätern
Alter mehr als billig nachsann. Einzelne Seiten dieses Begriffs sind uns zwar
sehr verständlich z. B. die Uebergewalt der Natur über die Regel, ferner daS
Räthsel des Zufalls, in dem man ein Gesetz ahnt, obgleich sich der Verstand
gegen die Möglichkeit eines solchen Gesetzes sträubt u. s. w. Aber außer diesen
deutlichen Begriffsbestimmungen liegt noch etwas darin, was er sich selbst nicht
^ar gemacht zu haben scheint. Der sittliche Proceß verliert sich in das Spiel
einer Kraft, die mit dem sittlichen Princip nichts zu thun hat. Die Zeit hatte
überall die Neigung, auf die letzten Gründe der Erscheinung einzugehen, die
Thatsachen nur als Gegenstand der Analyse aufzufassen, und die Kunst ließ sich
dadurch verleiten nach Art deö Anatomen, nicht selten auf eine recht widerliche
W"se, die innern Organe der Seele bloszulegen. In dem praktischen Leben
war keine feste und bestimmte Gestalt der Ideen vorhanden, der Dichter mußte


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_281149/343>, abgerufen am 09.11.2024.