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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band.

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ist, selten sein, aber es ist nicht gegen die Natur. In den Wahlverwandtschaften
befinden wir uns dagegen mitten im Kreise der vornehmen Gesellschaft, die
auch in ihren Leidenschaften, auch in dem Fall, wo sie der Leidenschaft über
den Verstand Raum zu geben entschlossen ist, sich an bestimmte Formen und
Ueberlegungen bindet, und hier erscheinen gewaltsame Entschlüsse stets als Roh-
heit, als Unnatur; sie kommen im wirklichen Leben wol vor, vielleicht häufiger
als Verhältnisse im Sinne Werthers, aber sie fallen außerhalb des Gebiets
der Poesie. Menschen, die weder recht zu genießen, noch recht zu entbehren
verstehen, sind kein erfreuliches Schauspiel, und weil der Dichter dies fühlte,
und weil er die mahnende innere Nothwendigkeit durch eine änßere, durch das
Gesetz der chemischen Affinitäten zu beschönigen suchte, hat er dadurch der
Idee eines Naturfatalismus Raum gegeben, die eigentlich doch nur ein leeres,
inhaltloses Spiel ist, und am wenigsten geeignet, die fehlende Idealität zu er¬
gänzen.

Betrachten wir in diesem Sinne zunächst die betheiligten Personen. Auf
jeden Leser wird zunächst Eduard einen unbefriedigender Eindruck machen,
den Eindruck einer unfertigen, unmännlicher Natur, in welcher fliegende Hitze
die Stelle der Kraft vertritt. Dieser Eindruck ist ein so auffallender, daß man
nicht anders glauben kann, als der Dichter habe ihn beabsichtigt. Nun er¬
fahren wir aber aus einem Brief an Zelter, daß Goethe diesen Charakter be¬
sonders liebte, weil- er ihm das rücksichtslose Gefühl vertrat, und wenn wir
nun, betroffen über diese Aufklärung, den Charakter noch einmal ins Auge
fassen, so müssen wir in der That zugestehen, daß er von allen Betheiligten
noch die meiste Natur enthält; und daß in seinem gewaltthätigen Bestreben
immer noch mehr Sinn und Verstand ist, als in den weisen Plänen Charlottens
und des Hauptmanns, um den leidigen Mittler gar nicht zu erwähnen. Aber
das Unglück ist sein Stand. Wir werden stets daran erinnert, daß er ein
Edelmann ist, und wenn wir ihm bei der Gewaltsamkeit seiner Leidenschaft selbst
ein Verbrechen poetisch verzeihen würden, so kann sich diese Verzeihung auf
die Verletzung des natürlichen Auslandes nicht ausdehnen. In der Scene des
Feuerwerks hört Eduard auf, ein Gentleman zu sein, er beträgt sich wie ein
Kind, und das können wir ihm nicht vergeben.

Charlotte soll im Gegensatz zu dem ungestümen Eduard die vollendete
Bildung des Gemüths ausdrücken, die ihrerseits den Wünschen deö Herzens
entsagt, und daher auch auf der andern Seile Entsagung zu fordern das Recht
hat. Allein wir würden von ihren unverschuldeten Leiden mehr gerührt wer¬
den, wenn ihre Entsagung ihr mehr kostete. Aber alle Achtung vor der Tugend
der guten Charlotte, es fehlt ihr vor allen Dingen an Temperament, und da
ist die Weisheit allerdings nicht schwer. Wie können wir ihr unser Mitgefühl
schenken, da die Verletzungen, die sie erleidet, nicht innerlich bluten? Der


ist, selten sein, aber es ist nicht gegen die Natur. In den Wahlverwandtschaften
befinden wir uns dagegen mitten im Kreise der vornehmen Gesellschaft, die
auch in ihren Leidenschaften, auch in dem Fall, wo sie der Leidenschaft über
den Verstand Raum zu geben entschlossen ist, sich an bestimmte Formen und
Ueberlegungen bindet, und hier erscheinen gewaltsame Entschlüsse stets als Roh-
heit, als Unnatur; sie kommen im wirklichen Leben wol vor, vielleicht häufiger
als Verhältnisse im Sinne Werthers, aber sie fallen außerhalb des Gebiets
der Poesie. Menschen, die weder recht zu genießen, noch recht zu entbehren
verstehen, sind kein erfreuliches Schauspiel, und weil der Dichter dies fühlte,
und weil er die mahnende innere Nothwendigkeit durch eine änßere, durch das
Gesetz der chemischen Affinitäten zu beschönigen suchte, hat er dadurch der
Idee eines Naturfatalismus Raum gegeben, die eigentlich doch nur ein leeres,
inhaltloses Spiel ist, und am wenigsten geeignet, die fehlende Idealität zu er¬
gänzen.

Betrachten wir in diesem Sinne zunächst die betheiligten Personen. Auf
jeden Leser wird zunächst Eduard einen unbefriedigender Eindruck machen,
den Eindruck einer unfertigen, unmännlicher Natur, in welcher fliegende Hitze
die Stelle der Kraft vertritt. Dieser Eindruck ist ein so auffallender, daß man
nicht anders glauben kann, als der Dichter habe ihn beabsichtigt. Nun er¬
fahren wir aber aus einem Brief an Zelter, daß Goethe diesen Charakter be¬
sonders liebte, weil- er ihm das rücksichtslose Gefühl vertrat, und wenn wir
nun, betroffen über diese Aufklärung, den Charakter noch einmal ins Auge
fassen, so müssen wir in der That zugestehen, daß er von allen Betheiligten
noch die meiste Natur enthält; und daß in seinem gewaltthätigen Bestreben
immer noch mehr Sinn und Verstand ist, als in den weisen Plänen Charlottens
und des Hauptmanns, um den leidigen Mittler gar nicht zu erwähnen. Aber
das Unglück ist sein Stand. Wir werden stets daran erinnert, daß er ein
Edelmann ist, und wenn wir ihm bei der Gewaltsamkeit seiner Leidenschaft selbst
ein Verbrechen poetisch verzeihen würden, so kann sich diese Verzeihung auf
die Verletzung des natürlichen Auslandes nicht ausdehnen. In der Scene des
Feuerwerks hört Eduard auf, ein Gentleman zu sein, er beträgt sich wie ein
Kind, und das können wir ihm nicht vergeben.

Charlotte soll im Gegensatz zu dem ungestümen Eduard die vollendete
Bildung des Gemüths ausdrücken, die ihrerseits den Wünschen deö Herzens
entsagt, und daher auch auf der andern Seile Entsagung zu fordern das Recht
hat. Allein wir würden von ihren unverschuldeten Leiden mehr gerührt wer¬
den, wenn ihre Entsagung ihr mehr kostete. Aber alle Achtung vor der Tugend
der guten Charlotte, es fehlt ihr vor allen Dingen an Temperament, und da
ist die Weisheit allerdings nicht schwer. Wie können wir ihr unser Mitgefühl
schenken, da die Verletzungen, die sie erleidet, nicht innerlich bluten? Der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_281149/340>, abgerufen am 01.09.2024.