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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band.

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Faden wieder an, und nun erfolgt die Katastrophe mit einer jähen, erschreckenden
Gewaltsamkeit, die zu der bisherigen Entwicklung in gar keinem Verhältniß
steht. Die Entschlüsse, durch welche sich die verschiedenen betheiligten Personen
aus ihrer angstvollen Verwicklung befreien, sind so unbegreiflicher Natur, daß
nur eine sorgfältige Vorbereitung sie uns hätte motiviren, uns in die dazu
nöthige Stimmung versetzen können. Aber alle die weisen Reflexionen aus den
Tagebuchblättern oder aus den geselligen Conversationen haben nicht den ge¬
ringsten Bezug zu dieser neue" Wendung der Dinge, und wir bleiben in der
rathlosester Verwirrung, die uns umsomehr peinigt, da wir einen tragischen
Eindruck empfangen sollen, der doch nie hervorgebracht wird, wo uns das Ge¬
fühl der Nothwendigkeit fehlt.

Hier nun ist der Punkt, wo der Vergleich mit dem Werther sich natürlich
aufdrängt. Beide Romane haben erwas Verwandtes, beide stehen in der Kom¬
position wie in der Färbung dem Wilhelm Meister gegenüber. In dem letzteren
dehnen sich die Ereignisse, die Figuren und die Betrachtungen in die Breite aus;
man sieht, dcrß eine Gesammtdarstellung der Gesellschaft in der Absicht liegt. Im
Werther wie in den Wahlverwandtschaften dagegen ist ein bestimmtes indivi¬
duelles Ereigniß der Gegenstand, ein Ereigniß, welches vom Licht einer bestimm¬
ten sittlichen Idee bestrahlt wird. Allein im Werther wird die Einheit durch die
Macht des Gefühls gegeben, in den Wahlverwandtschaften durch die Reflexion.
DciS erste hat der Dichter selbst erlebt, wenn er es auch dichterisch verschönerte;
das Problem,l welches dem zweiten zu Grunde lag, hat er sich ausgeklügelt.
Im Werther verfolgen wir die Steigerung der Leidenschaften Schritt für Schritt,
und wenn wir auch den Ausgang vom Standpunkt der Moral mißbilligen
wogen, so empfinden wir ihn doch in diesem individuellen Fall als nothwen¬
dig; denn wir haben ihn ganz erlebt und begriffen. In den Wahlverwandt¬
schaften dagegen merken wir, daß der Dichter selbst, wo es darauf ankommt,
eine entscheidende Wendung zu nehmen, rathlos ist und daß er darum die Ent¬
scheidung soweit als möglich hinausschiebt. In dem Problem, wie er es ge¬
stellt hat, ist kein bcstimmrer Ausgang indicirt; der vorliegende ist zwar der
"llerauffallendste und sonderbarste, aber die Auswahl unter allen möglichen
Entscheidungen war hier ganz unendlich.

Der Grund liegt in folgendem. Werther und Lotte erscheinen, soweit es
um 18. Jahrhundert überhaupt möglich war, als Kinder der Natur, von denen
wenigstens der eine sich daran gewöhnt hat, seinem Herzen in allen Dingen
unbedingte Folge zu geben, auch wo sein Verstand und sein Gewissen ihn eines
Bessern belehren sollten. Ihre Verhältnisse sind sehr einfach und zwar nicht
gesund, aber durchaus nicht unnatürlich. Daß die Liebe in einem unbändigen
Gemüth, wo sie zu keinem erwünschten Ziel führen kann, zum Untergang leitet,
wäg in unsrer Zeit, wo man sich überall zu bedingen und zu fügen gewohnt


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Faden wieder an, und nun erfolgt die Katastrophe mit einer jähen, erschreckenden
Gewaltsamkeit, die zu der bisherigen Entwicklung in gar keinem Verhältniß
steht. Die Entschlüsse, durch welche sich die verschiedenen betheiligten Personen
aus ihrer angstvollen Verwicklung befreien, sind so unbegreiflicher Natur, daß
nur eine sorgfältige Vorbereitung sie uns hätte motiviren, uns in die dazu
nöthige Stimmung versetzen können. Aber alle die weisen Reflexionen aus den
Tagebuchblättern oder aus den geselligen Conversationen haben nicht den ge¬
ringsten Bezug zu dieser neue» Wendung der Dinge, und wir bleiben in der
rathlosester Verwirrung, die uns umsomehr peinigt, da wir einen tragischen
Eindruck empfangen sollen, der doch nie hervorgebracht wird, wo uns das Ge¬
fühl der Nothwendigkeit fehlt.

Hier nun ist der Punkt, wo der Vergleich mit dem Werther sich natürlich
aufdrängt. Beide Romane haben erwas Verwandtes, beide stehen in der Kom¬
position wie in der Färbung dem Wilhelm Meister gegenüber. In dem letzteren
dehnen sich die Ereignisse, die Figuren und die Betrachtungen in die Breite aus;
man sieht, dcrß eine Gesammtdarstellung der Gesellschaft in der Absicht liegt. Im
Werther wie in den Wahlverwandtschaften dagegen ist ein bestimmtes indivi¬
duelles Ereigniß der Gegenstand, ein Ereigniß, welches vom Licht einer bestimm¬
ten sittlichen Idee bestrahlt wird. Allein im Werther wird die Einheit durch die
Macht des Gefühls gegeben, in den Wahlverwandtschaften durch die Reflexion.
DciS erste hat der Dichter selbst erlebt, wenn er es auch dichterisch verschönerte;
das Problem,l welches dem zweiten zu Grunde lag, hat er sich ausgeklügelt.
Im Werther verfolgen wir die Steigerung der Leidenschaften Schritt für Schritt,
und wenn wir auch den Ausgang vom Standpunkt der Moral mißbilligen
wogen, so empfinden wir ihn doch in diesem individuellen Fall als nothwen¬
dig; denn wir haben ihn ganz erlebt und begriffen. In den Wahlverwandt¬
schaften dagegen merken wir, daß der Dichter selbst, wo es darauf ankommt,
eine entscheidende Wendung zu nehmen, rathlos ist und daß er darum die Ent¬
scheidung soweit als möglich hinausschiebt. In dem Problem, wie er es ge¬
stellt hat, ist kein bcstimmrer Ausgang indicirt; der vorliegende ist zwar der
"llerauffallendste und sonderbarste, aber die Auswahl unter allen möglichen
Entscheidungen war hier ganz unendlich.

Der Grund liegt in folgendem. Werther und Lotte erscheinen, soweit es
um 18. Jahrhundert überhaupt möglich war, als Kinder der Natur, von denen
wenigstens der eine sich daran gewöhnt hat, seinem Herzen in allen Dingen
unbedingte Folge zu geben, auch wo sein Verstand und sein Gewissen ihn eines
Bessern belehren sollten. Ihre Verhältnisse sind sehr einfach und zwar nicht
gesund, aber durchaus nicht unnatürlich. Daß die Liebe in einem unbändigen
Gemüth, wo sie zu keinem erwünschten Ziel führen kann, zum Untergang leitet,
wäg in unsrer Zeit, wo man sich überall zu bedingen und zu fügen gewohnt


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[0339] Faden wieder an, und nun erfolgt die Katastrophe mit einer jähen, erschreckenden Gewaltsamkeit, die zu der bisherigen Entwicklung in gar keinem Verhältniß steht. Die Entschlüsse, durch welche sich die verschiedenen betheiligten Personen aus ihrer angstvollen Verwicklung befreien, sind so unbegreiflicher Natur, daß nur eine sorgfältige Vorbereitung sie uns hätte motiviren, uns in die dazu nöthige Stimmung versetzen können. Aber alle die weisen Reflexionen aus den Tagebuchblättern oder aus den geselligen Conversationen haben nicht den ge¬ ringsten Bezug zu dieser neue» Wendung der Dinge, und wir bleiben in der rathlosester Verwirrung, die uns umsomehr peinigt, da wir einen tragischen Eindruck empfangen sollen, der doch nie hervorgebracht wird, wo uns das Ge¬ fühl der Nothwendigkeit fehlt. Hier nun ist der Punkt, wo der Vergleich mit dem Werther sich natürlich aufdrängt. Beide Romane haben erwas Verwandtes, beide stehen in der Kom¬ position wie in der Färbung dem Wilhelm Meister gegenüber. In dem letzteren dehnen sich die Ereignisse, die Figuren und die Betrachtungen in die Breite aus; man sieht, dcrß eine Gesammtdarstellung der Gesellschaft in der Absicht liegt. Im Werther wie in den Wahlverwandtschaften dagegen ist ein bestimmtes indivi¬ duelles Ereigniß der Gegenstand, ein Ereigniß, welches vom Licht einer bestimm¬ ten sittlichen Idee bestrahlt wird. Allein im Werther wird die Einheit durch die Macht des Gefühls gegeben, in den Wahlverwandtschaften durch die Reflexion. DciS erste hat der Dichter selbst erlebt, wenn er es auch dichterisch verschönerte; das Problem,l welches dem zweiten zu Grunde lag, hat er sich ausgeklügelt. Im Werther verfolgen wir die Steigerung der Leidenschaften Schritt für Schritt, und wenn wir auch den Ausgang vom Standpunkt der Moral mißbilligen wogen, so empfinden wir ihn doch in diesem individuellen Fall als nothwen¬ dig; denn wir haben ihn ganz erlebt und begriffen. In den Wahlverwandt¬ schaften dagegen merken wir, daß der Dichter selbst, wo es darauf ankommt, eine entscheidende Wendung zu nehmen, rathlos ist und daß er darum die Ent¬ scheidung soweit als möglich hinausschiebt. In dem Problem, wie er es ge¬ stellt hat, ist kein bcstimmrer Ausgang indicirt; der vorliegende ist zwar der "llerauffallendste und sonderbarste, aber die Auswahl unter allen möglichen Entscheidungen war hier ganz unendlich. Der Grund liegt in folgendem. Werther und Lotte erscheinen, soweit es um 18. Jahrhundert überhaupt möglich war, als Kinder der Natur, von denen wenigstens der eine sich daran gewöhnt hat, seinem Herzen in allen Dingen unbedingte Folge zu geben, auch wo sein Verstand und sein Gewissen ihn eines Bessern belehren sollten. Ihre Verhältnisse sind sehr einfach und zwar nicht gesund, aber durchaus nicht unnatürlich. Daß die Liebe in einem unbändigen Gemüth, wo sie zu keinem erwünschten Ziel führen kann, zum Untergang leitet, wäg in unsrer Zeit, wo man sich überall zu bedingen und zu fügen gewohnt 42"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_281149/339>, abgerufen am 01.09.2024.