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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band.

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erleben; mit der er das Gespinnst der unfertigen und unheilvollen Zustände,
die uns ein Unheil ahnen lassen, anscheinend in den anmuthigsten und heitersten
Farben entwickelt; mit der er endlich Reflexionen und Betrachtungen aus dem
Gebiet der Natur, die scheinbar der Begebenheit ganz fremd liegen, so in die¬
selbe zu verweben weiß, daß sie jedes Mal unsrer Stimmung den idealen Ausdruck
geben, jedes Mal ein Symbol von dem Fortschritt der geistigen Entwicklung sind:
-- diese Kunst hat in der deutschen Poesie uicht ihres Gleichen. Und dabei der
bescheidene Gebrauch der Farben und Striche, da man doch überall merkt, daß
dem Dichter ein unendlicher Reichthum zu Gebote stände, diese weise Fügung
alles Einzelnen, so daß nichts als überflüssig erscheint, daß alles, obgleich der
unmittelbarste Ausdruck der Stimmung und Empfindung, dennoch als das
Ergebniß der feinsten künstlerischen Berechnung angesehen werden kann. -- So
geht es fort bis zu der Katastrophe, die Eduard aus dem Schloß vertreibt.
Dann aber verliert die Composition plötzlich allen Halt; die innere und die
äußere Welt, die sich bisher so innig verschlungen hatten, fallen auseinander.
Ein Reihe fremder Figuren und Ereignisse drängen sich hervor, ohne zur Ent¬
wicklung des Problems, das uns bisher beschäftigt, etwas Wesentliches beizu¬
tragen. Die Handlung scheint stillezustehen und müßigen Episoden Platz zu
machen, die an sich zwar sehr schon erzählt sind, die uns aber in der Stimmung,
in der wir uns befinden, nur stören und verwirren. Und um die Spannung
nicht ganz erlahmen zu lassen und die Entwicklung des Charakters, um den
sich das Ganze dreht, weiter fortzuführen, wendet der Dichter ein sehr bedenk¬
liches Mittel an.- Er schreibt uns die angeblichen Tagebuchblätter Ottiliens
ab, und sucht den Fortgang der Empfindung durch Reflexionen zu ersetzen-
Zwar versichert er uus, in der Reihe dieser Reflexionen ziehe sich ein Faden
durch, der die Stimmung der Helden im Verhältniß zu ihrer Charakterentwick-
lung versinnliche; allein er versäumt es, uns diesen Faden zu-zeigen. Ja es
ist ihm mit seiner Versicherung kein rechter Ernst, denn es ist in jenen Reflexionen
nicht nur kein Fortschritt, keine Bewegung, sondern die meisten von ihnen sind
von der Art, daß ein junges Mädchen von der Anlage, wie uns der Dichter
Ottilie schildert, sie gar nicht hätte anstellen können: sie . drücken nicht un¬
mittelbare Stimmungen oder Regungen der Seele aus, sondern Maximen über
das menschliche Leben, und setzen eine feine, eindringende, scharfe und kalte
Beobachtung der Wirklichkeit, ja eine Reife des Geistes voraus, welche nur das
höhere Alter gibt. Und diese Reflexionen stehen mit den bunten Geschichten,
die uns. daneben erzählt werden, in gar keinem oder was noch schlimmer ist, in
einem äußerlichen, künstlichen Zusammenhang. Man durchschaut in vielen Fällen,
wie die einzelne Geschichte nur um der Reflexion willen eingefügt ist. -- Man
sieht keinen rechten Grund, warum wir nicht in der Weise noch länger hätten
unterhalten werden können. Da knüpft der Dichter unerwartet den abgerissenen


erleben; mit der er das Gespinnst der unfertigen und unheilvollen Zustände,
die uns ein Unheil ahnen lassen, anscheinend in den anmuthigsten und heitersten
Farben entwickelt; mit der er endlich Reflexionen und Betrachtungen aus dem
Gebiet der Natur, die scheinbar der Begebenheit ganz fremd liegen, so in die¬
selbe zu verweben weiß, daß sie jedes Mal unsrer Stimmung den idealen Ausdruck
geben, jedes Mal ein Symbol von dem Fortschritt der geistigen Entwicklung sind:
— diese Kunst hat in der deutschen Poesie uicht ihres Gleichen. Und dabei der
bescheidene Gebrauch der Farben und Striche, da man doch überall merkt, daß
dem Dichter ein unendlicher Reichthum zu Gebote stände, diese weise Fügung
alles Einzelnen, so daß nichts als überflüssig erscheint, daß alles, obgleich der
unmittelbarste Ausdruck der Stimmung und Empfindung, dennoch als das
Ergebniß der feinsten künstlerischen Berechnung angesehen werden kann. — So
geht es fort bis zu der Katastrophe, die Eduard aus dem Schloß vertreibt.
Dann aber verliert die Composition plötzlich allen Halt; die innere und die
äußere Welt, die sich bisher so innig verschlungen hatten, fallen auseinander.
Ein Reihe fremder Figuren und Ereignisse drängen sich hervor, ohne zur Ent¬
wicklung des Problems, das uns bisher beschäftigt, etwas Wesentliches beizu¬
tragen. Die Handlung scheint stillezustehen und müßigen Episoden Platz zu
machen, die an sich zwar sehr schon erzählt sind, die uns aber in der Stimmung,
in der wir uns befinden, nur stören und verwirren. Und um die Spannung
nicht ganz erlahmen zu lassen und die Entwicklung des Charakters, um den
sich das Ganze dreht, weiter fortzuführen, wendet der Dichter ein sehr bedenk¬
liches Mittel an.- Er schreibt uns die angeblichen Tagebuchblätter Ottiliens
ab, und sucht den Fortgang der Empfindung durch Reflexionen zu ersetzen-
Zwar versichert er uus, in der Reihe dieser Reflexionen ziehe sich ein Faden
durch, der die Stimmung der Helden im Verhältniß zu ihrer Charakterentwick-
lung versinnliche; allein er versäumt es, uns diesen Faden zu-zeigen. Ja es
ist ihm mit seiner Versicherung kein rechter Ernst, denn es ist in jenen Reflexionen
nicht nur kein Fortschritt, keine Bewegung, sondern die meisten von ihnen sind
von der Art, daß ein junges Mädchen von der Anlage, wie uns der Dichter
Ottilie schildert, sie gar nicht hätte anstellen können: sie . drücken nicht un¬
mittelbare Stimmungen oder Regungen der Seele aus, sondern Maximen über
das menschliche Leben, und setzen eine feine, eindringende, scharfe und kalte
Beobachtung der Wirklichkeit, ja eine Reife des Geistes voraus, welche nur das
höhere Alter gibt. Und diese Reflexionen stehen mit den bunten Geschichten,
die uns. daneben erzählt werden, in gar keinem oder was noch schlimmer ist, in
einem äußerlichen, künstlichen Zusammenhang. Man durchschaut in vielen Fällen,
wie die einzelne Geschichte nur um der Reflexion willen eingefügt ist. — Man
sieht keinen rechten Grund, warum wir nicht in der Weise noch länger hätten
unterhalten werden können. Da knüpft der Dichter unerwartet den abgerissenen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_281149/338>, abgerufen am 01.09.2024.