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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band.

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weil es so vollkommen unpraktisch ist, daß es nicht einmal eine Handhabe der
Widerlegung bietet. Wir machen nur auf die merkwürdige Illusion aufmerksam,
die einerseits darin liegt, daß man es für möglich hält, aus einer durch und
durch verderbten Generation könnten zweckmäßige Erzieher eines neuen Geschlechts
hervorgehen, und in der vollständigen Nichtachtung des demoralisirenden Ein¬
flusses, den die Fortdauer der feindlichen Herrschaft auch auf die Jugend aus¬
üben mußte.

Wir haben bereits im Früheren daran erinnert, daß die Bekanntschaft mit
dem Pestalozzischcn System auf ihn ebenso bedeutend eingewirkt hat, wie die
französische Revolution und der transscendentale Idealismus. Der größte Theil
dieser Reden beschäftigt sich nun damit, dieses System zu generalisiren und
es zur Anwendung auf die gesammte deutsche Jugend zu empfehlen. Er hat
sich seine Ideen darüber bis ins kleinste Detail zurechtgelegt, und eS Macht
auf uns einen erschütternden Eindruck, zu sehen, wie dieses so ernst und so
gewissenhaft durchdachte Lehrgebäude auf Illusionen beruht. Darin lag wol
der Grundfehler Fichtes: seinem scharfen Denken fehlte es immer an jenem
reichhaltigen und sorgfältig angeschauter Stoff, der diesem Denken allein den
wahren Inhalt geben kann. Er hatte keinen Sinn und keine Achtung für das
Concrete. Seine positiven Kenntnisse waren unzureichend und seine Com¬
binationen daher häufig höchst willkürlich. Darin bildete er einen großen
Gegensatz gegen Kant und Hegel, ja selbst gegen Schelling, dessen Wissen
zwar nicht gründlich, aber doch wenigstens sehr vielseitig war, und darin finden
wir auch den eigentlichen Grund dafür, daß er keine Schule gegründet hat,
denn in der Metaphysik konnte man ihn eigentlich nur wiederholen und bei
der angewandten Philosophie wollte sein System nirgend passen.

Dieser mangelnde Sinn für das concrete Leben zeigt sich auch in seiner
Rechtsphilosophie, für die er doch dem Anschein nach bei seinem strenge"
Moralitätsprincip und bei seinem Eifer für das praktische Leben den größten
Beruf hätte haben sollen. Es ist dies der Erbfehler aller deutschen Rechts¬
philosophien. Solange sie sich in den metaphysischen Anfangsgründen bewegen,
-enthalten sie sehr geistreiche und bedeutende Winke, sobald sie dieselben aber auf das
Bestimmte anwenden wollen, sind sie rathlos. Es fehlt ihnen jener Sinn für
Realität, der selbst zu den ungeheuersten politischen Abstractionen nothwendig
ist, wenn diese irgend eine Beziehung zur Wirklichkeit haben sollen. Montes¬
quieu und Rousseau waren gewiß in ihren Ideen sehr einseitig, aber sie haben
mit denselben auf das mächtigste in die Weltbewegung eingegriffen, weil auch
in ihrer Abstraction immer noch starke reale Beziehungen waren. Die deutsche
Philosophie dagegen hat sür die Entwicklung der Begriffe vom Staat wenig
geleistet, auch Hegel nicht, obgleich er vor allen noch den meisten historischen
Sinn hatte. Das constitutionelle System, das er empfahl, fand er bereits in


weil es so vollkommen unpraktisch ist, daß es nicht einmal eine Handhabe der
Widerlegung bietet. Wir machen nur auf die merkwürdige Illusion aufmerksam,
die einerseits darin liegt, daß man es für möglich hält, aus einer durch und
durch verderbten Generation könnten zweckmäßige Erzieher eines neuen Geschlechts
hervorgehen, und in der vollständigen Nichtachtung des demoralisirenden Ein¬
flusses, den die Fortdauer der feindlichen Herrschaft auch auf die Jugend aus¬
üben mußte.

Wir haben bereits im Früheren daran erinnert, daß die Bekanntschaft mit
dem Pestalozzischcn System auf ihn ebenso bedeutend eingewirkt hat, wie die
französische Revolution und der transscendentale Idealismus. Der größte Theil
dieser Reden beschäftigt sich nun damit, dieses System zu generalisiren und
es zur Anwendung auf die gesammte deutsche Jugend zu empfehlen. Er hat
sich seine Ideen darüber bis ins kleinste Detail zurechtgelegt, und eS Macht
auf uns einen erschütternden Eindruck, zu sehen, wie dieses so ernst und so
gewissenhaft durchdachte Lehrgebäude auf Illusionen beruht. Darin lag wol
der Grundfehler Fichtes: seinem scharfen Denken fehlte es immer an jenem
reichhaltigen und sorgfältig angeschauter Stoff, der diesem Denken allein den
wahren Inhalt geben kann. Er hatte keinen Sinn und keine Achtung für das
Concrete. Seine positiven Kenntnisse waren unzureichend und seine Com¬
binationen daher häufig höchst willkürlich. Darin bildete er einen großen
Gegensatz gegen Kant und Hegel, ja selbst gegen Schelling, dessen Wissen
zwar nicht gründlich, aber doch wenigstens sehr vielseitig war, und darin finden
wir auch den eigentlichen Grund dafür, daß er keine Schule gegründet hat,
denn in der Metaphysik konnte man ihn eigentlich nur wiederholen und bei
der angewandten Philosophie wollte sein System nirgend passen.

Dieser mangelnde Sinn für das concrete Leben zeigt sich auch in seiner
Rechtsphilosophie, für die er doch dem Anschein nach bei seinem strenge»
Moralitätsprincip und bei seinem Eifer für das praktische Leben den größten
Beruf hätte haben sollen. Es ist dies der Erbfehler aller deutschen Rechts¬
philosophien. Solange sie sich in den metaphysischen Anfangsgründen bewegen,
-enthalten sie sehr geistreiche und bedeutende Winke, sobald sie dieselben aber auf das
Bestimmte anwenden wollen, sind sie rathlos. Es fehlt ihnen jener Sinn für
Realität, der selbst zu den ungeheuersten politischen Abstractionen nothwendig
ist, wenn diese irgend eine Beziehung zur Wirklichkeit haben sollen. Montes¬
quieu und Rousseau waren gewiß in ihren Ideen sehr einseitig, aber sie haben
mit denselben auf das mächtigste in die Weltbewegung eingegriffen, weil auch
in ihrer Abstraction immer noch starke reale Beziehungen waren. Die deutsche
Philosophie dagegen hat sür die Entwicklung der Begriffe vom Staat wenig
geleistet, auch Hegel nicht, obgleich er vor allen noch den meisten historischen
Sinn hatte. Das constitutionelle System, das er empfahl, fand er bereits in


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_281149/314>, abgerufen am 01.09.2024.