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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band.

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liebe>Bedenken, .daß die wirkliche Geschichte kein Gegenbild desselben gibt. Die¬
ser Umstand drängt sich der Aufmerksamkeit umsomehr auf, wenn der Philosoph
aus seinen allgemeinen Behauptungen heraustritt und seine Construction im
einzelnen nachzuweisen sucht. Um nämlich den Uebergang aus dem ersten in
das'zweite Zeitalter zu charakterisiren, setzt er an den Ursprung der Geschichte
auf der einen Seite ein Normalvolk, in welchem der Vernunftinstinct unbedingt
geherrscht habe, und eine Reihe barbarischer Völker ohne Vernunft und ohne
Freiheit. Die Unterwerfung der letzteren durch das erstere habe dann das
Zeitalter der Autorität herbeigeführt. Ob das vor oder nach der Sündflut
geschehen sei. davon erfahren wir nichts. Der Uebergang aus dem zweiter, in
das dritte Zeitalter dagegen wird mit der wirklichen Geschichte in Zusammen¬
hang gesetzt. Die erste Grundlage der letzteren sei nämlich die Paulinische
Auffassung des Christenthums gewesen, welche an Stelle der einfachen, un¬
mittelbaren Empfindung, wie sie im ursprünglichen Johanneischen Christenthum
gewaltet habe, das Raisonnement gesetzt. Aus dieser Paulinischen Richtung,
die in der spätern Entwicklung, z. B. im Gnosticismus und im Protestantis¬
mus wieder von neuem aufgetreten sei, leitet Fichte den gesammten Inhalt der
modernen Zeit her: eine so unerhörte Abstraction, daß sie allein schon seinen
vollkommnen Mangel an historischem Sinn verrathen würde.

Bei einigem Nachdenken wird man den Grund dieser Verirrung sehr bald
gewahr. Der phänomenologische Proceß in der menschlichen Entwicklung, den
Fichte in seinen wesentlichen Zügen sehr scharf und tief charakterisiert, ist nicht
ein historischer, d. h. ein der Zeit angehöriger, sondern er erneut sich in jedem
Menschen, in jedem Volk, in jeder Periode, in jeder Richtung des Geistes.
Ueberall entreißt man sich der Autorität durch die Anarchie, und jene fünf
Zeitalter erneuen sich daher mit den nothwendigen Modificationen in jedem
Jahrhundert. Viel tiefer hat diesen Proceß Hegel in seiner Phänomenologie
aufgefaßt, in welcher der Begriff der Zeit ganz aufhört. Aber ebendadurch ist
das Ganze noch viel unbestimmter und trüber geworden.

Wir lassen also die metaphysischen Formen ganz bei Seite und betrachten
die Grundzüge als eine Satire gegen die deutschen Zustände am Ende des
achtzehnten Jahrhunderts. Als solche ist sie glänzend und wird wenigstens in
einzelnen Zügen als unvergängliches Denkmal sich erhalten. Der Gesichts¬
punkt, von dem sie ausgeht, entspricht zwar zum Theil dein der gesammten
poetisch-philosophischen Schule, welcher Fichte angehörte, aber auch nur zum
Theil, denn was sie wesentlich davon unterscheidet ist der strenge, fast puritanische
Ernst der sittlichen Gesinnung, die grenzenlose Verachtung gegen das Spiel,
gegen die Zwecklosigkeit, gegen die Ironie, und die Hintansetzung aller künst¬
lerischen Auffassung gegen die moralische.

Die Satire trifft zunächst das wissenschaftliche Verhalten dieses Zeitalters.


liebe>Bedenken, .daß die wirkliche Geschichte kein Gegenbild desselben gibt. Die¬
ser Umstand drängt sich der Aufmerksamkeit umsomehr auf, wenn der Philosoph
aus seinen allgemeinen Behauptungen heraustritt und seine Construction im
einzelnen nachzuweisen sucht. Um nämlich den Uebergang aus dem ersten in
das'zweite Zeitalter zu charakterisiren, setzt er an den Ursprung der Geschichte
auf der einen Seite ein Normalvolk, in welchem der Vernunftinstinct unbedingt
geherrscht habe, und eine Reihe barbarischer Völker ohne Vernunft und ohne
Freiheit. Die Unterwerfung der letzteren durch das erstere habe dann das
Zeitalter der Autorität herbeigeführt. Ob das vor oder nach der Sündflut
geschehen sei. davon erfahren wir nichts. Der Uebergang aus dem zweiter, in
das dritte Zeitalter dagegen wird mit der wirklichen Geschichte in Zusammen¬
hang gesetzt. Die erste Grundlage der letzteren sei nämlich die Paulinische
Auffassung des Christenthums gewesen, welche an Stelle der einfachen, un¬
mittelbaren Empfindung, wie sie im ursprünglichen Johanneischen Christenthum
gewaltet habe, das Raisonnement gesetzt. Aus dieser Paulinischen Richtung,
die in der spätern Entwicklung, z. B. im Gnosticismus und im Protestantis¬
mus wieder von neuem aufgetreten sei, leitet Fichte den gesammten Inhalt der
modernen Zeit her: eine so unerhörte Abstraction, daß sie allein schon seinen
vollkommnen Mangel an historischem Sinn verrathen würde.

Bei einigem Nachdenken wird man den Grund dieser Verirrung sehr bald
gewahr. Der phänomenologische Proceß in der menschlichen Entwicklung, den
Fichte in seinen wesentlichen Zügen sehr scharf und tief charakterisiert, ist nicht
ein historischer, d. h. ein der Zeit angehöriger, sondern er erneut sich in jedem
Menschen, in jedem Volk, in jeder Periode, in jeder Richtung des Geistes.
Ueberall entreißt man sich der Autorität durch die Anarchie, und jene fünf
Zeitalter erneuen sich daher mit den nothwendigen Modificationen in jedem
Jahrhundert. Viel tiefer hat diesen Proceß Hegel in seiner Phänomenologie
aufgefaßt, in welcher der Begriff der Zeit ganz aufhört. Aber ebendadurch ist
das Ganze noch viel unbestimmter und trüber geworden.

Wir lassen also die metaphysischen Formen ganz bei Seite und betrachten
die Grundzüge als eine Satire gegen die deutschen Zustände am Ende des
achtzehnten Jahrhunderts. Als solche ist sie glänzend und wird wenigstens in
einzelnen Zügen als unvergängliches Denkmal sich erhalten. Der Gesichts¬
punkt, von dem sie ausgeht, entspricht zwar zum Theil dein der gesammten
poetisch-philosophischen Schule, welcher Fichte angehörte, aber auch nur zum
Theil, denn was sie wesentlich davon unterscheidet ist der strenge, fast puritanische
Ernst der sittlichen Gesinnung, die grenzenlose Verachtung gegen das Spiel,
gegen die Zwecklosigkeit, gegen die Ironie, und die Hintansetzung aller künst¬
lerischen Auffassung gegen die moralische.

Die Satire trifft zunächst das wissenschaftliche Verhalten dieses Zeitalters.


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[0306] liebe>Bedenken, .daß die wirkliche Geschichte kein Gegenbild desselben gibt. Die¬ ser Umstand drängt sich der Aufmerksamkeit umsomehr auf, wenn der Philosoph aus seinen allgemeinen Behauptungen heraustritt und seine Construction im einzelnen nachzuweisen sucht. Um nämlich den Uebergang aus dem ersten in das'zweite Zeitalter zu charakterisiren, setzt er an den Ursprung der Geschichte auf der einen Seite ein Normalvolk, in welchem der Vernunftinstinct unbedingt geherrscht habe, und eine Reihe barbarischer Völker ohne Vernunft und ohne Freiheit. Die Unterwerfung der letzteren durch das erstere habe dann das Zeitalter der Autorität herbeigeführt. Ob das vor oder nach der Sündflut geschehen sei. davon erfahren wir nichts. Der Uebergang aus dem zweiter, in das dritte Zeitalter dagegen wird mit der wirklichen Geschichte in Zusammen¬ hang gesetzt. Die erste Grundlage der letzteren sei nämlich die Paulinische Auffassung des Christenthums gewesen, welche an Stelle der einfachen, un¬ mittelbaren Empfindung, wie sie im ursprünglichen Johanneischen Christenthum gewaltet habe, das Raisonnement gesetzt. Aus dieser Paulinischen Richtung, die in der spätern Entwicklung, z. B. im Gnosticismus und im Protestantis¬ mus wieder von neuem aufgetreten sei, leitet Fichte den gesammten Inhalt der modernen Zeit her: eine so unerhörte Abstraction, daß sie allein schon seinen vollkommnen Mangel an historischem Sinn verrathen würde. Bei einigem Nachdenken wird man den Grund dieser Verirrung sehr bald gewahr. Der phänomenologische Proceß in der menschlichen Entwicklung, den Fichte in seinen wesentlichen Zügen sehr scharf und tief charakterisiert, ist nicht ein historischer, d. h. ein der Zeit angehöriger, sondern er erneut sich in jedem Menschen, in jedem Volk, in jeder Periode, in jeder Richtung des Geistes. Ueberall entreißt man sich der Autorität durch die Anarchie, und jene fünf Zeitalter erneuen sich daher mit den nothwendigen Modificationen in jedem Jahrhundert. Viel tiefer hat diesen Proceß Hegel in seiner Phänomenologie aufgefaßt, in welcher der Begriff der Zeit ganz aufhört. Aber ebendadurch ist das Ganze noch viel unbestimmter und trüber geworden. Wir lassen also die metaphysischen Formen ganz bei Seite und betrachten die Grundzüge als eine Satire gegen die deutschen Zustände am Ende des achtzehnten Jahrhunderts. Als solche ist sie glänzend und wird wenigstens in einzelnen Zügen als unvergängliches Denkmal sich erhalten. Der Gesichts¬ punkt, von dem sie ausgeht, entspricht zwar zum Theil dein der gesammten poetisch-philosophischen Schule, welcher Fichte angehörte, aber auch nur zum Theil, denn was sie wesentlich davon unterscheidet ist der strenge, fast puritanische Ernst der sittlichen Gesinnung, die grenzenlose Verachtung gegen das Spiel, gegen die Zwecklosigkeit, gegen die Ironie, und die Hintansetzung aller künst¬ lerischen Auffassung gegen die moralische. Die Satire trifft zunächst das wissenschaftliche Verhalten dieses Zeitalters.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_281149/306>, abgerufen am 01.09.2024.