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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band.

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greifen der augenblicklichen Stimmung stattfand. Die Grundzüge sind ein
sehr interessantes und fesselndes Buch, wenn man sie als eine directe Satire
gegen den herrschenden Geist des Zeitalters betrachtet. Sie dagegen auf irgend
eine andere Zeit anzuwenden, würde eine ganz vergebliche Bemühung sein.

Und doch behauptet Fichte fortwährend, er lasse die empirische Anschauung
ganz dahingestellt sein, er construire nur ein in der Weltgeschichte nothwen¬
diges Zeitalter. Ob dieses Zeitalter das gegenwärtige sei, darüber wolle er
nichts Bestimmtes behaupten. So ist denn hier der später wieder häufig auf¬
tretende Versuch, die Geschichte -r priori zu construiren, zum ersten Mal auf
eine so paradore Weise angestellt, daß man nachher nie etwas Gleiches gesehen
hat, denn keinem der späteren Geschichtsphilosophen ist es eingefallen, die wirkliche
Beobachtung als Quelle seiner Darstellung ganz zu verleugnen. Fichte da¬
gegen behauptete, das gegenwärtige Zeitalter mit allen seinen Details, bis
zur Einrichtung der Journalartikel und bis zum Tabakrauchen, a priori aus
dem Begriff der Geschichte zu construiren.

Seine Construction beruht auf der Idee eines Weltplans, nach welchem
die Menschen ihre Verhältnisse mit Freiheit nach der Vernunft einrichten sollen.
Dieser Weltplan kann in seiner Vollständigkeit erst am Ende der Geschichte
ausgeführt werden: es wird also ein goldnes Zeitalter angenommen, welches
hinter der eigentlichen Geschichte steht. Um aber die Entwicklung desselben
möglich zu machen, muß ein zweites goldnes Zeitalter bereits an den Anfang
der Geschichte gestellt werden, welches sich von dem letzteren nur dadurch unter¬
schied, daß die absolute Vernunft sich ohne Freiheit, lediglich instinctmäßig,
realisirte. Aus diesem ursprünglichen Paradiese sei der Mensch zuerst dadurch
getreten, daß der Inhalt der Vernunft sich als Autorität firirte. Das sei das
zweite Zeitalter der Menschheit, welches durch den derselben immanenten
Freiheitstrieb endlich gebrochen sei und dem dritten Zeitalter Raum gemacht
habe, dem Zeitalter der vollkommnen, aber leeren Freiheit, in welchem man
alle allgemeinen Vernunftideen aufgegeben habe und sich nur durch subjective
Interessen und Meinungen bestimmen lasse. Dieses gegenwärtige Zeitalter
könne nur durch die Erkenntniß gebrochen werden, daß der Mensch, um selig
zu sein, sein persönliches Leben unbedingt und ohne Ausnahme dem Leben
der Gattung unterordne, daß er also nur in Ideen lebe (Idee al>s der dem
Menschen angeborne und von aller Erfahrung unabhängige lebendige Gedanke).
Sobald diese Ueberzeugung, die im vierten Zeitalter nur als Widerspruch gegen
den herrschenden Geist aufträte, sich der gesammten Menschheit bemächtigt habe,
werde das letzte, das goldene Zeitalter, einbrechen.

Gegen diese Construction der Geschichte erhebt sich, abgesehen davon, daß
>es doch hart scheint, einem zukünftigen goldnen Zeitalter die ganze frühere
Geschichte als leere.und unselige Uebergangsstufcn aufzuopfern, das sehr ncuür-


Grenzboten. III. <8ni. 38

greifen der augenblicklichen Stimmung stattfand. Die Grundzüge sind ein
sehr interessantes und fesselndes Buch, wenn man sie als eine directe Satire
gegen den herrschenden Geist des Zeitalters betrachtet. Sie dagegen auf irgend
eine andere Zeit anzuwenden, würde eine ganz vergebliche Bemühung sein.

Und doch behauptet Fichte fortwährend, er lasse die empirische Anschauung
ganz dahingestellt sein, er construire nur ein in der Weltgeschichte nothwen¬
diges Zeitalter. Ob dieses Zeitalter das gegenwärtige sei, darüber wolle er
nichts Bestimmtes behaupten. So ist denn hier der später wieder häufig auf¬
tretende Versuch, die Geschichte -r priori zu construiren, zum ersten Mal auf
eine so paradore Weise angestellt, daß man nachher nie etwas Gleiches gesehen
hat, denn keinem der späteren Geschichtsphilosophen ist es eingefallen, die wirkliche
Beobachtung als Quelle seiner Darstellung ganz zu verleugnen. Fichte da¬
gegen behauptete, das gegenwärtige Zeitalter mit allen seinen Details, bis
zur Einrichtung der Journalartikel und bis zum Tabakrauchen, a priori aus
dem Begriff der Geschichte zu construiren.

Seine Construction beruht auf der Idee eines Weltplans, nach welchem
die Menschen ihre Verhältnisse mit Freiheit nach der Vernunft einrichten sollen.
Dieser Weltplan kann in seiner Vollständigkeit erst am Ende der Geschichte
ausgeführt werden: es wird also ein goldnes Zeitalter angenommen, welches
hinter der eigentlichen Geschichte steht. Um aber die Entwicklung desselben
möglich zu machen, muß ein zweites goldnes Zeitalter bereits an den Anfang
der Geschichte gestellt werden, welches sich von dem letzteren nur dadurch unter¬
schied, daß die absolute Vernunft sich ohne Freiheit, lediglich instinctmäßig,
realisirte. Aus diesem ursprünglichen Paradiese sei der Mensch zuerst dadurch
getreten, daß der Inhalt der Vernunft sich als Autorität firirte. Das sei das
zweite Zeitalter der Menschheit, welches durch den derselben immanenten
Freiheitstrieb endlich gebrochen sei und dem dritten Zeitalter Raum gemacht
habe, dem Zeitalter der vollkommnen, aber leeren Freiheit, in welchem man
alle allgemeinen Vernunftideen aufgegeben habe und sich nur durch subjective
Interessen und Meinungen bestimmen lasse. Dieses gegenwärtige Zeitalter
könne nur durch die Erkenntniß gebrochen werden, daß der Mensch, um selig
zu sein, sein persönliches Leben unbedingt und ohne Ausnahme dem Leben
der Gattung unterordne, daß er also nur in Ideen lebe (Idee al>s der dem
Menschen angeborne und von aller Erfahrung unabhängige lebendige Gedanke).
Sobald diese Ueberzeugung, die im vierten Zeitalter nur als Widerspruch gegen
den herrschenden Geist aufträte, sich der gesammten Menschheit bemächtigt habe,
werde das letzte, das goldene Zeitalter, einbrechen.

Gegen diese Construction der Geschichte erhebt sich, abgesehen davon, daß
>es doch hart scheint, einem zukünftigen goldnen Zeitalter die ganze frühere
Geschichte als leere.und unselige Uebergangsstufcn aufzuopfern, das sehr ncuür-


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[0305] greifen der augenblicklichen Stimmung stattfand. Die Grundzüge sind ein sehr interessantes und fesselndes Buch, wenn man sie als eine directe Satire gegen den herrschenden Geist des Zeitalters betrachtet. Sie dagegen auf irgend eine andere Zeit anzuwenden, würde eine ganz vergebliche Bemühung sein. Und doch behauptet Fichte fortwährend, er lasse die empirische Anschauung ganz dahingestellt sein, er construire nur ein in der Weltgeschichte nothwen¬ diges Zeitalter. Ob dieses Zeitalter das gegenwärtige sei, darüber wolle er nichts Bestimmtes behaupten. So ist denn hier der später wieder häufig auf¬ tretende Versuch, die Geschichte -r priori zu construiren, zum ersten Mal auf eine so paradore Weise angestellt, daß man nachher nie etwas Gleiches gesehen hat, denn keinem der späteren Geschichtsphilosophen ist es eingefallen, die wirkliche Beobachtung als Quelle seiner Darstellung ganz zu verleugnen. Fichte da¬ gegen behauptete, das gegenwärtige Zeitalter mit allen seinen Details, bis zur Einrichtung der Journalartikel und bis zum Tabakrauchen, a priori aus dem Begriff der Geschichte zu construiren. Seine Construction beruht auf der Idee eines Weltplans, nach welchem die Menschen ihre Verhältnisse mit Freiheit nach der Vernunft einrichten sollen. Dieser Weltplan kann in seiner Vollständigkeit erst am Ende der Geschichte ausgeführt werden: es wird also ein goldnes Zeitalter angenommen, welches hinter der eigentlichen Geschichte steht. Um aber die Entwicklung desselben möglich zu machen, muß ein zweites goldnes Zeitalter bereits an den Anfang der Geschichte gestellt werden, welches sich von dem letzteren nur dadurch unter¬ schied, daß die absolute Vernunft sich ohne Freiheit, lediglich instinctmäßig, realisirte. Aus diesem ursprünglichen Paradiese sei der Mensch zuerst dadurch getreten, daß der Inhalt der Vernunft sich als Autorität firirte. Das sei das zweite Zeitalter der Menschheit, welches durch den derselben immanenten Freiheitstrieb endlich gebrochen sei und dem dritten Zeitalter Raum gemacht habe, dem Zeitalter der vollkommnen, aber leeren Freiheit, in welchem man alle allgemeinen Vernunftideen aufgegeben habe und sich nur durch subjective Interessen und Meinungen bestimmen lasse. Dieses gegenwärtige Zeitalter könne nur durch die Erkenntniß gebrochen werden, daß der Mensch, um selig zu sein, sein persönliches Leben unbedingt und ohne Ausnahme dem Leben der Gattung unterordne, daß er also nur in Ideen lebe (Idee al>s der dem Menschen angeborne und von aller Erfahrung unabhängige lebendige Gedanke). Sobald diese Ueberzeugung, die im vierten Zeitalter nur als Widerspruch gegen den herrschenden Geist aufträte, sich der gesammten Menschheit bemächtigt habe, werde das letzte, das goldene Zeitalter, einbrechen. Gegen diese Construction der Geschichte erhebt sich, abgesehen davon, daß >es doch hart scheint, einem zukünftigen goldnen Zeitalter die ganze frühere Geschichte als leere.und unselige Uebergangsstufcn aufzuopfern, das sehr ncuür- Grenzboten. III. <8ni. 38

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_281149/305>, abgerufen am 01.09.2024.