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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band.

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saurer Haus- und Feldarbeit und im Dulden der ganzen wuchtvollen Eigen¬
thümlichkeit ihres Ehemannes, und darum wandelt sich die als Mädchen
schöne Gestalt im "ehelichen Karren" rasch zur runzligen Frau. Daß sie fast
wie eine Sklavin in allem ihrem Hausgebieter zu Gefallen lebt und ihm die
besten Bissen vorsetzt, daß sie für die Kinder im eigenlichsten Sinn leibt und
lebt, wacht und weint, rennt und Lasten bergauf und thalein schleppt, sich alles
abspart, ja für sie selbst ihr Haar vom Kopf verkaufen kann, (was früher auf
dem ganzen Wald geschah und die häßlichen Titusköpfe erzeugte); dies alles
sichert sie nicht vor der Faust des Mannes, der, wenn er betrunken oder sonst
gereizt die Küchen- und Stubengeräthe zertrümmert hat, zuletzt der grollenden
Frau mit Schlägen zu Leibe geht. Ein Glück, daß dem Weibe ein allmächtiger
Gewöhnungstrieb einwohnt, wodurch die sturmvollen Wochen neben den weni¬
gen harmlosen sternenhellen Tagen überwunden werden. Der Mann im Haus,
schlechthin der "Er" genannt, kennt und lebt täglich nur zwei Pulsschläge,
am Tag seine gemessene Arbeit, durch die er für die Familie Brot schafft, am
Abend Ruhe, Genuß und Vergnügen. Nach "gethaner Arbeit" lagert er sich
gern beim Bierkrug, gern geht er zu nachbarlicher Gesellschaft, wo erzählt,
gespaßt und geneckt wird; aber vor allem liegt ihm die Pflege seiner Vögel
am Herzen, denn dies ist sein höchstes Vergnügen. Daß der Vater über seine
Vögel alles vergessen kann und daß er sie zuerst bedenkt, so kümmerlich es auch im
Haus und Stall hergeht, finden Weib und Kinder natürlich, weil sie an diesen
Natursängern gleich große Freude haben. Alt und Jung auf dem Wald durch¬
dringt derselbe starke, tiefe Naturzug der Verehrung ihrer Waldvögel, ja, als
wär es angeboren, schon die Kinder wissen die verschiedenen Arten der Vögel
und ihre verschiedenen Singweisen zu unterscheiden. Wer im Sommer über die
Rücken des Waldes wandert, wird überrascht, an den Wänden der kleinen Häuser
oft 12--18 Vogelbauer hängen zu sehen. Man fängt mit großer Gewandheit
und auf die mannigfachste Weise die Lieblinge, von denen der Wald an 80 Arten
birgt und unter denen der Fink, der Dompfaff, Grünitz, Stieglitz, Zeisig, Hänf¬
ling, die Meise und das Nothkehlchen am meisten verehrt sind. Ob ihre Natur¬
töne oder ihr eingelernter Gesang höher zu achten, darüber liegen manche Dörfer
des Waldes miteinander in Streit, besonders gilt dies vom Finken, dessen
Schlag seine festen Terminologien und Abstufungen hat, wonach der Werth des
Sängers bestimmt wird. Die Kuh im Stall geht oft nicht über den Preis eines
Finken, welcher seinen Schlag rein durchführt und wenn er dies thut, so glän¬
zen dem Wäldner die Augen trunken vor Freude. Der Grünitz, dieser Papagei
des thüringer Waldes, findet bei den Waldbewohnern wegen seiner Zauberkraft,
die Krankheiten der Familie in sich aufzunehmen, eine besondere Verehrung
und wird deshalb niemals im Chor der Sänger vermißt. Wie der melodische
Schlag der Vögel, so üben Gesang und Musik auf den Bergbewohner einen


saurer Haus- und Feldarbeit und im Dulden der ganzen wuchtvollen Eigen¬
thümlichkeit ihres Ehemannes, und darum wandelt sich die als Mädchen
schöne Gestalt im „ehelichen Karren" rasch zur runzligen Frau. Daß sie fast
wie eine Sklavin in allem ihrem Hausgebieter zu Gefallen lebt und ihm die
besten Bissen vorsetzt, daß sie für die Kinder im eigenlichsten Sinn leibt und
lebt, wacht und weint, rennt und Lasten bergauf und thalein schleppt, sich alles
abspart, ja für sie selbst ihr Haar vom Kopf verkaufen kann, (was früher auf
dem ganzen Wald geschah und die häßlichen Titusköpfe erzeugte); dies alles
sichert sie nicht vor der Faust des Mannes, der, wenn er betrunken oder sonst
gereizt die Küchen- und Stubengeräthe zertrümmert hat, zuletzt der grollenden
Frau mit Schlägen zu Leibe geht. Ein Glück, daß dem Weibe ein allmächtiger
Gewöhnungstrieb einwohnt, wodurch die sturmvollen Wochen neben den weni¬
gen harmlosen sternenhellen Tagen überwunden werden. Der Mann im Haus,
schlechthin der „Er" genannt, kennt und lebt täglich nur zwei Pulsschläge,
am Tag seine gemessene Arbeit, durch die er für die Familie Brot schafft, am
Abend Ruhe, Genuß und Vergnügen. Nach „gethaner Arbeit" lagert er sich
gern beim Bierkrug, gern geht er zu nachbarlicher Gesellschaft, wo erzählt,
gespaßt und geneckt wird; aber vor allem liegt ihm die Pflege seiner Vögel
am Herzen, denn dies ist sein höchstes Vergnügen. Daß der Vater über seine
Vögel alles vergessen kann und daß er sie zuerst bedenkt, so kümmerlich es auch im
Haus und Stall hergeht, finden Weib und Kinder natürlich, weil sie an diesen
Natursängern gleich große Freude haben. Alt und Jung auf dem Wald durch¬
dringt derselbe starke, tiefe Naturzug der Verehrung ihrer Waldvögel, ja, als
wär es angeboren, schon die Kinder wissen die verschiedenen Arten der Vögel
und ihre verschiedenen Singweisen zu unterscheiden. Wer im Sommer über die
Rücken des Waldes wandert, wird überrascht, an den Wänden der kleinen Häuser
oft 12—18 Vogelbauer hängen zu sehen. Man fängt mit großer Gewandheit
und auf die mannigfachste Weise die Lieblinge, von denen der Wald an 80 Arten
birgt und unter denen der Fink, der Dompfaff, Grünitz, Stieglitz, Zeisig, Hänf¬
ling, die Meise und das Nothkehlchen am meisten verehrt sind. Ob ihre Natur¬
töne oder ihr eingelernter Gesang höher zu achten, darüber liegen manche Dörfer
des Waldes miteinander in Streit, besonders gilt dies vom Finken, dessen
Schlag seine festen Terminologien und Abstufungen hat, wonach der Werth des
Sängers bestimmt wird. Die Kuh im Stall geht oft nicht über den Preis eines
Finken, welcher seinen Schlag rein durchführt und wenn er dies thut, so glän¬
zen dem Wäldner die Augen trunken vor Freude. Der Grünitz, dieser Papagei
des thüringer Waldes, findet bei den Waldbewohnern wegen seiner Zauberkraft,
die Krankheiten der Familie in sich aufzunehmen, eine besondere Verehrung
und wird deshalb niemals im Chor der Sänger vermißt. Wie der melodische
Schlag der Vögel, so üben Gesang und Musik auf den Bergbewohner einen


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[0220] saurer Haus- und Feldarbeit und im Dulden der ganzen wuchtvollen Eigen¬ thümlichkeit ihres Ehemannes, und darum wandelt sich die als Mädchen schöne Gestalt im „ehelichen Karren" rasch zur runzligen Frau. Daß sie fast wie eine Sklavin in allem ihrem Hausgebieter zu Gefallen lebt und ihm die besten Bissen vorsetzt, daß sie für die Kinder im eigenlichsten Sinn leibt und lebt, wacht und weint, rennt und Lasten bergauf und thalein schleppt, sich alles abspart, ja für sie selbst ihr Haar vom Kopf verkaufen kann, (was früher auf dem ganzen Wald geschah und die häßlichen Titusköpfe erzeugte); dies alles sichert sie nicht vor der Faust des Mannes, der, wenn er betrunken oder sonst gereizt die Küchen- und Stubengeräthe zertrümmert hat, zuletzt der grollenden Frau mit Schlägen zu Leibe geht. Ein Glück, daß dem Weibe ein allmächtiger Gewöhnungstrieb einwohnt, wodurch die sturmvollen Wochen neben den weni¬ gen harmlosen sternenhellen Tagen überwunden werden. Der Mann im Haus, schlechthin der „Er" genannt, kennt und lebt täglich nur zwei Pulsschläge, am Tag seine gemessene Arbeit, durch die er für die Familie Brot schafft, am Abend Ruhe, Genuß und Vergnügen. Nach „gethaner Arbeit" lagert er sich gern beim Bierkrug, gern geht er zu nachbarlicher Gesellschaft, wo erzählt, gespaßt und geneckt wird; aber vor allem liegt ihm die Pflege seiner Vögel am Herzen, denn dies ist sein höchstes Vergnügen. Daß der Vater über seine Vögel alles vergessen kann und daß er sie zuerst bedenkt, so kümmerlich es auch im Haus und Stall hergeht, finden Weib und Kinder natürlich, weil sie an diesen Natursängern gleich große Freude haben. Alt und Jung auf dem Wald durch¬ dringt derselbe starke, tiefe Naturzug der Verehrung ihrer Waldvögel, ja, als wär es angeboren, schon die Kinder wissen die verschiedenen Arten der Vögel und ihre verschiedenen Singweisen zu unterscheiden. Wer im Sommer über die Rücken des Waldes wandert, wird überrascht, an den Wänden der kleinen Häuser oft 12—18 Vogelbauer hängen zu sehen. Man fängt mit großer Gewandheit und auf die mannigfachste Weise die Lieblinge, von denen der Wald an 80 Arten birgt und unter denen der Fink, der Dompfaff, Grünitz, Stieglitz, Zeisig, Hänf¬ ling, die Meise und das Nothkehlchen am meisten verehrt sind. Ob ihre Natur¬ töne oder ihr eingelernter Gesang höher zu achten, darüber liegen manche Dörfer des Waldes miteinander in Streit, besonders gilt dies vom Finken, dessen Schlag seine festen Terminologien und Abstufungen hat, wonach der Werth des Sängers bestimmt wird. Die Kuh im Stall geht oft nicht über den Preis eines Finken, welcher seinen Schlag rein durchführt und wenn er dies thut, so glän¬ zen dem Wäldner die Augen trunken vor Freude. Der Grünitz, dieser Papagei des thüringer Waldes, findet bei den Waldbewohnern wegen seiner Zauberkraft, die Krankheiten der Familie in sich aufzunehmen, eine besondere Verehrung und wird deshalb niemals im Chor der Sänger vermißt. Wie der melodische Schlag der Vögel, so üben Gesang und Musik auf den Bergbewohner einen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_281149/220>, abgerufen am 01.09.2024.