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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band.

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heilung der römischen Geschichte für uns Deutsche zugleich dasjenige Studium
gewesen ist, an dem wir unsren historischen Sinn und unsre historische Darstel¬
lung überhaupt geübt, an dem wir gelernt haben, wie man forschen und wie
man Geschichte schreiben soll, so scheint es uns nicht unzweckmäßig, einen flüch¬
tigen Blick auf den Gang dieser Forschung im allgemeinen zu werfen.

Die Ueberlieferungen der römischen Geschichte schreiben sich aus einer Zeit
her, die einen rhetorischen, oder, wenn wir die Schillersche Terminologie beibe¬
halten wollen, einen sentimentalischen Charakter an sich trug. Unsre Quellen
waren hauptsächlich Livius und Plutarch, und was uns an ihnen vorzugsweise
interessirte, die Anekdoten von dem Geist des Volks, die freilich einen symbo¬
lischen und typischen Charakter hatten, aber keineswegs die Unbefangenheit
von rein und unverfälscht überlieferten Mythen, die vielmehr sämmtlich durch
die Rhetorik eines spätern Zeitalters ausgeschmückt waren. Die Geschichten
von Regulus, von Coriolan, von Fabricius, von Brutus, von Cineinatüs u. s. w.
wußten wir auswendig, ehe noch irgend jemand unter uns auf den Unterschied
mythischer und historischer Ueberlieferung seine Aufmerksamkeit gerichtet hatte.
Aus diesen zum Theil ganz werthlosen Charakterzügen setzten wir uns ein
Bild des römischen Lebens zusammen, welches in unsren Schulen als. Ideal
aufgestellt wurde, und von dem man auch gar keinen Anstand nahm, Wünsche
und Forderungen für das gegenwärtige Staatsleben herzuleiten.

Nun trat jene Reaction in unsrer deutschen Bildung ein, welche die Kunst,
die Philosophie und die Wissenschaft gleichmäßig berührte und aus einem
freieren Studium des griechischen Lebens und der griechischen Kunst hervor¬
ging. Wenn sich die sogenannte Humanitätsbildung mit ihrem neugewonnenen
griechischen Ideal wieder zur Betrachtung der römischen Geschichte zurückwandte,
so traten ihr zunächst jene wohlbekannten mythischen Anekdoten entgegen, die
sie aber nun in einem ganz andern Lichte auffaßte als früher. Denn der Grund¬
zug, der sich in ihnen allen ausspricht, die Verleugnung des allgemeinen sitt¬
lichen Instincts zu Gunsten einer Abstraction des Verstandes mußte in einer
Zeit, wo man die Individualität, den Jnstinct und die sogenannte Natur auf
den Altar hob, als eine Versündigung am heiligen Geist der Menschheit jedes
fühlende Herz beleidigen. Diese Stimmung gegen das römische Wesen ist der
Grundton der sogenannten philosophischen Geschichtschreiber. Am lautesten
wurde er zuerst von Herder in seinen "Ideen" angeschlagen, der in der ganzen
römischen Geschichte einen sündhaften Abfall von der Natur sah; und der in
seinem Haß gegen Rom soweit ging, daß er einmal das Schicksal auf das
lebhafteste anklagte, weil es nicht dem edlen Hannibal und dem edlen Volk
der Punier den Sieg über dieses Volk von Fanatikern und Barbaren verliehen
habe. -- Von den übrigen Versuchen, über die Geschichte zu philosophiren,
hat sich mit Recht nur der Hegelsche im Gedächtniß der Menschen erhalten.


heilung der römischen Geschichte für uns Deutsche zugleich dasjenige Studium
gewesen ist, an dem wir unsren historischen Sinn und unsre historische Darstel¬
lung überhaupt geübt, an dem wir gelernt haben, wie man forschen und wie
man Geschichte schreiben soll, so scheint es uns nicht unzweckmäßig, einen flüch¬
tigen Blick auf den Gang dieser Forschung im allgemeinen zu werfen.

Die Ueberlieferungen der römischen Geschichte schreiben sich aus einer Zeit
her, die einen rhetorischen, oder, wenn wir die Schillersche Terminologie beibe¬
halten wollen, einen sentimentalischen Charakter an sich trug. Unsre Quellen
waren hauptsächlich Livius und Plutarch, und was uns an ihnen vorzugsweise
interessirte, die Anekdoten von dem Geist des Volks, die freilich einen symbo¬
lischen und typischen Charakter hatten, aber keineswegs die Unbefangenheit
von rein und unverfälscht überlieferten Mythen, die vielmehr sämmtlich durch
die Rhetorik eines spätern Zeitalters ausgeschmückt waren. Die Geschichten
von Regulus, von Coriolan, von Fabricius, von Brutus, von Cineinatüs u. s. w.
wußten wir auswendig, ehe noch irgend jemand unter uns auf den Unterschied
mythischer und historischer Ueberlieferung seine Aufmerksamkeit gerichtet hatte.
Aus diesen zum Theil ganz werthlosen Charakterzügen setzten wir uns ein
Bild des römischen Lebens zusammen, welches in unsren Schulen als. Ideal
aufgestellt wurde, und von dem man auch gar keinen Anstand nahm, Wünsche
und Forderungen für das gegenwärtige Staatsleben herzuleiten.

Nun trat jene Reaction in unsrer deutschen Bildung ein, welche die Kunst,
die Philosophie und die Wissenschaft gleichmäßig berührte und aus einem
freieren Studium des griechischen Lebens und der griechischen Kunst hervor¬
ging. Wenn sich die sogenannte Humanitätsbildung mit ihrem neugewonnenen
griechischen Ideal wieder zur Betrachtung der römischen Geschichte zurückwandte,
so traten ihr zunächst jene wohlbekannten mythischen Anekdoten entgegen, die
sie aber nun in einem ganz andern Lichte auffaßte als früher. Denn der Grund¬
zug, der sich in ihnen allen ausspricht, die Verleugnung des allgemeinen sitt¬
lichen Instincts zu Gunsten einer Abstraction des Verstandes mußte in einer
Zeit, wo man die Individualität, den Jnstinct und die sogenannte Natur auf
den Altar hob, als eine Versündigung am heiligen Geist der Menschheit jedes
fühlende Herz beleidigen. Diese Stimmung gegen das römische Wesen ist der
Grundton der sogenannten philosophischen Geschichtschreiber. Am lautesten
wurde er zuerst von Herder in seinen „Ideen" angeschlagen, der in der ganzen
römischen Geschichte einen sündhaften Abfall von der Natur sah; und der in
seinem Haß gegen Rom soweit ging, daß er einmal das Schicksal auf das
lebhafteste anklagte, weil es nicht dem edlen Hannibal und dem edlen Volk
der Punier den Sieg über dieses Volk von Fanatikern und Barbaren verliehen
habe. — Von den übrigen Versuchen, über die Geschichte zu philosophiren,
hat sich mit Recht nur der Hegelsche im Gedächtniß der Menschen erhalten.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_281149/10>, abgerufen am 01.09.2024.